Buerger, ohne Arbeit
Leben ist im wesentlichen die Geschichte
ihres Scheiterns, mühseliger Neuanfänge. Robert Castel gebührt das Verdienst, diese Geschichte bis zum Beginn der Neuzeit
zurückverfolgt und im westeuropäischen Kontext zusammenhängend dargestellt zu haben. Allein durch ihr weitgespanntes Panorama
empfiehlt sich seine Untersuchung als Leitfaden zur Vertiefung des früher Gesagten. Ein kaum geringer zu veranschlagender
Vorzug ist ihre Doppelperspektive. Castel hat den Blick des Historikers, aber auch den des Soziologen. Er verfolgt und begreift
die Metamorphosen der sozialen Frage als Ausdruck eines tiefer liegenden Problems – des Problems der gesellschaftlichen Integration.
Die soziale Frage wird von gesellschaftlichen Gruppen, Milieus, Figuren aufgeworfen, die sich in eine bestehende Ordnung mit
den herkömmlichen Mitteln nicht einfügen lassen, die sie durch ihr bloßes Dasein stören.
2. Ein solcher Störenfried der öffentlichen Ordnung im Europa des vierzehnten Jahrhunderts war der VAGABUND. Von der bäuerlichen
Gesellschaft nicht länger einzufangen, auf der Flucht vor Hungersnöten, von der schwachen Hoffnung getrieben, in den zu neuem
Leben erwachten Städten ein bescheidenes Auskommen zu finden, zog er als Handlanger, als früher Prolet durch die Lande: arbeitsfähig,
aber ohne langfristig verwertbare Qualifikationen und überall |153| fremd. Als innerer Fremdling verkörperte er in einer allenfalls protokapitalistischen Epoche ein unlösbares Problem und wurde
dementsprechend kriminalisiert, je nach Lage und »Zeitgeist« der Ausweisung, Deportation, Zwangsarbeit, Einsperrung unterworfen
oder der Hinrichtung zugeführt. Die ganze grausame Phantasie des Repressionsapparates traktierte diese Unglücklichen, mit
der wohlbedachten Nebenfolge, die sozial Integrierbaren unter den arbeitsfähigen Armen zu erschrecken, mit einem wahren Horror
vor dieser geächteten Daseinsweise zu infizieren. Der abschreckende Charakter dieser Politik war ebenso wichtig, vielleicht
noch wichtiger als ihre direkte Wirkung. 146
Die Methoden der Abschreckung wandelten, humanisierten sich im Lauf der Zeiten, wenn dieses Wort hier überhaupt am Platze
ist; die Ziele blieben unverändert. Das erste Wort kommunaler »Sozialpolitik« ist auch ihr einstweilen letztes – die Unterscheidung
zwischen »guten« und »schlechten« Armen. Schlecht, wo nicht gar böse ist der Arme, der arbeiten könnte, es aber nicht tut,
und seine sozialmoralische Verwerflichkeit steigert sich noch, wenn er als Fremder daherkommt, mit Ansprüchen, die allein
Einheimische geltend machen können. Tragen diese seßhaften Armen darüber hinaus sichtbare Zeichen ihrer Arbeitsunfähigkeit,
unterstehen sie als gottgefällige Lektionen menschlicher Unvollkommenheit der öffentlichen Fürsorge und der persönlichen Barmherzigkeit,
lebenslange Bindung an Ort und Sprengel, klaglos erduldete Gemeindeknechtschaft einmal vorausgesetzt. Bedürftigkeit als Invalidität
zu simulieren gehörte unter diesen Umständen zu den elementaren Überlebenstechniken, und auch das ist bis heute so geblieben.
Den nur scheinbar guten Armen im Überraschungsangriff die Maske vom Gesicht zu reißen, auf daß der »Parasit« zum Vorschein
komme, war behördlicher Alltag der »Armenpflege« und ist es heute wieder.
3. Seit dem sechzehnten Jahrhundert sah sich das grobe Raster dieser frühen Sozialpolitik mit neuen Herausforderungen |154| konfrontiert. Infolge von Hungersnöten, Seuchen, Kriegen schwoll das Heer der Entwurzelten kontinuierlich an. Die massenhafte
Einhegung von Bauernland sowie die Umwandlung der Allmende in profitable Weideflächen (Morus’ »gefräßige Schafe«, die Menschen
verschlingen und das Land entvölkern) verschärften das allgemeine Elend zur ersten großen Massenarbeitslosigkeit der Neuzeit.
Der BETTLER, fast zwangsläufig mit dem Dieb im Gepäck, wurde zur neuen Kristallisationsfigur dieser Bedrohung, die die Fassungskraft
der Gemeinden und Städte sprengte. Die Antwort erfolgte in Form der staatlichen Systematisierung bis dahin kommunaler Erkennungs-
und Zwangsregime, jener »Großen Einsperrung«, die das gesamte »Zeitalter der Klassik« währte. Eine ebenso terroristische wie
ohnmächtige und letztlich paradoxe Praxis. Sie verwechselte Ursache und Wirkung, moralisierte das Unglück und schuf im Verborgenen
eine Hölle auf Erden. Überflüssige Menschen, ihrer Rechte und ihrer Würde entkleidet, nur
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