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Buerger, ohne Arbeit

Titel: Buerger, ohne Arbeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Engler
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eigener Kraft daraus
     befreien konnten, und jene, die das nicht vermochten, das heißt in ARBEITSFÄHIGE und ARBEITSUNFÄHIGE. Wer durch eigenes Verschulden
     in seine mißliche Lage geraten war, hatte von den anstehenden Reformen bestenfalls Erleichterungen zu erhoffen. Ansonsten
     blieb er, wo er war, im Gefängnis oder Arbeitshaus. Wen dagegen ein wirkliches Schicksal, sei es der Natur, sei es der Umstände,
     aus der Bahn geworfen hatte, der war umgehend in Freiheit zu setzen. Der sollte wieder für sich selber sorgen. Vorausgesetzt,
     er war dazu imstande und stellte auch sonst keine Gefährdung für die Allgemeinheit dar. Blieben also diejenigen, die man weder
     als Wahnsinnige noch als Kriminelle, noch als potentielle Arbeiter ansah – die »gutmütigen« Tölpel, die dauerhaft Kranken,
     die verkrüppelten Soldaten, die verwitweten |157| Frauen, die wunderlichen Alten. Wie war mit ihnen zu verfahren? War die Gesellschaft als ganze aufgerufen, ihnen zu helfen?
     Sollte der neu zu schaffende Staat die Sache in die Hand nehmen? Sollte er Steuermittel einsetzen, um allgemeine Krankenhäuser
     zu errichten und Vorsorge für Berufsunfähigkeit und Alter treffen?
    5. Darüber entbrannte eine heftige Polemik. 150 Einige wenige, wie Abbé Récalde, befürworteten ein staatliches Sozialsystem, die öffentliche Finanzierung und Kontrolle unterschiedlichster
     Wohlfahrtseinrichtungen. Sie gingen davon aus, daß jede soziale Pflicht gleichzeitig eine Pflicht der Gesellschaft und damit
     schließlich des Staates sei; daß, wie es Abbé Desmonceaux, ein anderer Radikalreformer, formulierte, »persönliche Wohltaten«
     der Ergänzung und Untermauerung durch »nationale Wohltaten« bedürften, um wirklich verläßlich zu sein. Die Mehrheit verwarf
     die Idee einer staatlich organisierten Daseinsvorsorge für die Unterschichten. Liberale Ökonomen wie Turgot oder sein Schüler
     Dupont de Nemours betrachteten die soziale Pflicht als eine Pflicht, der die Individuen als Private genügen müßten, nicht
     die Gesellschaft, die sie miteinander bilden. In ihrer Konzeption war die Fürsorge keine Struktur des Staates, sondern ein
     persönliches Band, das von Mensch zu Mensch reicht. Was de Nemour im Jahre 1786 postulierte, ist bis auf den heutigen Tag
     das ABC der »Subsidiarität« (§ 31.6): »Der Beistand innerhalb der Familie, die durch Liebe und Freundschaft zusammenhält,
     ist immer der aufmerksamste und energischste. Die Hilfe, aus je größerer Entfernung sie kommt, ist von geringerem Wert und
     erscheint denen schwerer, die sie gewähren.« 151 Daß gerade die institutionalisierte, anonyme Hilfe das Helfen erleichtert, weil von Sympathien und Antipathien entlastet,
     dämmerte diesen Liberalen sowenig wie ihren neoliberalen Nachbetern, die ungeniert darin fortfahren, den »von Herzen« kommenden
     Beistand gegen die »bürokratisierte« Vorsorge auszuspielen. – Im vorrevolutionären Frankreich und an der Schwelle zur kapitalistischen |158| Industriegesellschaft besaß die Idee einer weitgehenden Privatisierung sozialer Pflichten noch eine gewisse Plausibilität.
     Sie appellierte an Familien und Nachbarschaften, die noch weithin intakt und seit je daran gewohnt waren, gestrandete Mitglieder
     aufzunehmen. Sie appellierte darüber hinaus an das Bedürfnis »unfreier« Menschen, ihre wechselseitigen Verpflichtungen endlich
     ohne die Einmischung hoher Herrschaften und rechtlicher Vormünder zu regeln. Sie appellierte schließlich an die verbreitete
     Erwartung, daß die ungehinderte Entfaltung der Privatinitiative zu anhaltendem wirtschaftlichem Aufschwung und daher über
     kurz oder lang auch zum Verschwinden der Armut führen würde.
    Zweihundert Jahre darauf ist es nur noch zynisch, den sozialen Sinn »natürlicher« Gemeinschaften zu bemühen, um Staatsrückzüge
     zu rechtfertigen. Erst fordert man die Menschen auf, alle persönlichen Bindungen dem Markt zu opfern, und kaum haben sie es
     getan, verweist man sie in ihrer Not vom Staat zurück an die Lieben daheim, das heißt oft genug ans Nichts. Dieselben falschen
     Propheten, die die uneingeschränkte Flexibilität des »Humankapitals« in den Zeiten der Globalisierung predigen, beweinen den
     Verfall der familiären Werte.
    6. In der historischen Debatte trug der Liberalismus den Sieg über den Republikanismus davon. Von der Revolution nur kurz
     erschüttert, eroberte er nach ihrem Abebben die »fortschrittliche« Welt. Wie zuvor schon England und wie

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