Buerger, ohne Arbeit
später der Rest der
industrialisierten Welt, huldigte auch Frankreich dem Dogma vom »ökonomischen Staat«. Jedenfalls soweit es das Soziale betraf.
Sosehr man sich beeilte, jenen Teil der Zivilgerichtsbarkeit, den die Revolution im Jahre 1790 in die Hände von Familiengerichten
gelegt hatte, wieder zu verstaatlichen und dazu berufenen Körperschaften zu übertragen, 152 sosehr sputete man sich, die Armenfürsorge, die dieselbe Revolution in erheblichem Umfang verstaatlicht hatte, 153 erneut zu privatisieren und ihrem »natürlichen« Hort, den Familien, zuzuweisen.
|159| Ob Freihändler oder Protektionisten, bei der Privatisierung der sozialen Frage bildeten sie eine traute Bruderschaft. Ihr
Verständnis des Wortes »sozial« deckte sich mit jenem der Diderotschen Enzyklopädie. Dort las man um 1770 kurz und bündig:
»Sozial (Grammatik) – Dieses Wort wurde vor kurzem in die Sprache eingeführt, um die Eigenschaften, die einen Menschen in
der Gesellschaft nützlich und für den Umgang mit anderen Menschen geeignet machen, zu bezeichnen: soziale Eigenschaften.« 154 Daß der Ausdruck wie selbstverständlich der Grammatik zugeordnet wird anstatt der Politik oder wenigstens der Ökonomie, sagt
mehr über das liberale Weltverständnis, als feierliche Reden je sagen könnten. Die seltsam anmutende Klassifikation läßt erahnen,
wie wenig die breitere Öffentlichkeit auf eine Diskussion der sozialen Frage vorbereitet war. Nur kleine Minderheiten widersetzten
sich dem Zeitgeist. Ansonsten herrschte die Überzeugung, daß das Soziale überhaupt keine Frage, sondern eine schiere Selbstverständlichkeit
war; etwas, das man von Haus aus mitbrachte oder dort reparierte.
Die kranken, verkrüppelten und verlassenen Armen brachten da sehr wenig mit. Sie waren weder nützlich noch angenehm. Sie verletzten
das soziale Empfinden. Mehr noch. Sie waren, »sozial« gesehen, überflüssig. Obwohl von den Verbrechern getrennt und in die
Obhut ihrer Familien zurückgegeben, führten sie in der öffentlichen Wahrnehmung nach wie vor ein Zwitterdasein. Als Stiefkinder
des Schicksals gemahnten sie jedermann an dessen grausame Härte. Als Störenfriede des Sozialen blieben sie Angehörige jener
Region, die die menschliche Verfehlung umschloß. Sie konnten nicht arbeiten, gewiß. Aber vielleicht verwies gerade das auf
eine fundamentale Amoralität, die tief in ihnen schlummerte, auf ihre Weigerung, sich in das normale Getriebe dieser Welt
einzufügen wie alle anderen auch. Diese Mängelwesen, die höchstens Mitleid verdienten, in Menschen zu verwandeln, die soziale
Rechte besaßen, setzte einen Bruch mit dem liberalen, gerade erst zur Dominanz gelangten |160| Weltbild voraus. Er ereignete sich in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Damals entdeckte man eine Macht, die
Gut und Böse ohne Abfindung verdrängte und dem menschlichen Unglück aus der moralischen Ächtung half – die Gesellschaft. Letzter
Urheber aller Nöte, war sie auch der letzte Adressat ihrer Linderung. Plötzlich war die soziale Frage
en vogue
.
7. Kulturhistoriker werden dieser Ansicht widersprechen. Sie werden sich dabei auf das Europa der Jahre 1750 bis etwa 1775
berufen und sagen, daß die Gesellschaft schon damals Mode war. Und wirklich sprach man in dieser Zeit von nahezu nichts anderem.
Es gab kein Übel, dessen Wurzeln nicht der Gesellschaft zugeschrieben wurden. Verbrechen, Krankheiten, Selbstmorde, die ganze
Abschlaffung und Degeneration der Gattung wurden ihr zur Last gelegt. Man kennt die Standardwerke dieser beiden Dekaden zur
Genüge. Unter den Philosophen ragt Rousseaus
Diskurs über die Wissenschaften und Künste
hervor; die Ökonomen antworteten, indem sie die verheerenden sittlichen Konsequenzen des Luxus geißelten, man denke nur an
Cantillons
Abhandlung über die Natur des Handels im allgemeinen
; Pädagogen wie Pestalozzi, Campe, Basedow kritisierten ein lebensfremdes Erziehungswesen, das die Heranwachsenden verzärtelte;
Ärzte wie Tissot erklärten das »Milieu« zur Ursache angeblich grassierender Geisteskrankheiten; Architekten und Städteplaner
sahen in den rasch wachsenden Städten die Ursache für die Ausbreitung von Kriminalität und Seuchen; zu Beginn der 1780er Jahre
zog Mercier mit seinem zwölfbändigen
Tableau de Paris
so etwas wie die Summe dieser Sozialphobie. Denn eine Phobie war es. Machte man doch nicht eine bestimmte Organisationsform
der Gesellschaft für das
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