Buerger, ohne Arbeit
Gleichheitszeichen setzte. Vorbeuge gegen das Risiko ja, aber nicht für immer,
sondern für eine kritische Zwischenzeit, die dann wieder »normalen« Zeiten weicht; Zeiten, in denen sich der Leistungsempfänger
von heute in den Arbeiter zurückverwandelt, der er gestern war, und in dieselben Kassen einzahlt, die ihn unterhielten.
Was dieses System fast ein Jahrhundert lang trug und auch für die Privilegierten tragbar machte, war das Prinzip der »Wiedergutmachung«.
Es praktisch einzulösen, bedurfte es des Ineinandergreifens von Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum. Phasen, in denen
sich dieser Zusammenhang lockerte oder auflöste, galten als Phasen krisenhafter Entwicklung. Der nächste Aufschwung, die nächste
Basisinnovation würde Abhilfe schaffen. Was aber, wenn die Krise zur Normalität wird? Wenn sich die Beschäftigungslage nicht
allein vom Konjunkturzyklus, sondern vom Wachstum selber löst? Wenn die Arbeitslosigkeit sowohl in Phasen der wirtschaftlichen
Depression als auch in solchen allgemeiner Euphorie grassiert? Wenn, mit anderen Worten, immer mehr Menschen nicht nur zeitweise,
sondern dauerhaft zu Kostgängern |183| des Sozialstaates werden? Wenn der typische Empfänger sozialer Leistungen nicht mehr der ist, der zurückerstattet, sondern
derjenige, der empfängt und empfängt und empfängt? Dann verliert die staatliche Daseinsfürsorge ihr bisheriges Fundament und
ihre Überredungskraft. Dann wird der Konsens brüchig, nicht zuletzt der zwischen Arbeitsbesitzern und Nichtbesitzern. Dann
wittert der Liberalismus eine neue Chance. Dann droht die Reprivatisierung der Fürsorge, ihre Rückbildung zur ungebundenen
Nächstenliebe. Und damit sind wir gegenwärtig konfrontiert.
Die soziale Frage des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts ist die Frage nach dem Schicksal von Millionen von Menschen, für
die der Gegenwartskapitalismus anscheinend keine Verwendung mehr hat. Was wird mit diesen Überflüssigen geschehen? Wird man
sie einer immer detaillierteren sozialen Kontrolle unterwerfen; einer Kontrolle, die im selben Maße eskaliert, in dem die
Wahrscheinlichkeit der Rückerstattung sinkt? Wird man sie, wenn diese Wahrscheinlichkeit in Gewißheit umschlägt, vollends
aus der Gesellschaft drängen? Und muß mit diesen Dauerreservisten der späten Industriemoderne die Aussichtslosigkeit des frühen
neunzehnten Jahrhunderts nicht geradezu zwangsläufig wiederauferstehen, nur massenhafter, unabwendbarer? Gibt es Möglichkeiten,
den historischen Kompromiß von Erwerbsarbeit und Menschenwürde auf eine humane Weise zu kündigen? Kann man beider Schicksalslinien
so entflechten, daß man jene verlieren und diese dennoch wahren kann?
4. Die Krise der Lohnarbeitsgesellschaft hebt die alte Arbeiterfrage dialektisch auf; sie verliert ihre herausgehobene Bedeutung
und gewinnt allgemeine Gültigkeit. Die neue soziale Frage besitzt desto größere Aussichten, öffentlich durchzudringen, je
hartnäckiger sie die Privilegierten heimsucht und verängstigt (letzter Tribut des Elends an den Status?). Die Vereinigten
Staaten von Amerika lieferten vor wenigen Jahren einen überzeugenden Beweis für diese Feststellung. Solange die Massenarbeitslosigkeit,
soziale wie |184| kulturelle Verelendung im wesentlichen die Unterschichten trafen, die Schwarzen, Hispanics, bluecollar-Arbeiter, erregte sich
kaum jemand unter den Bessergestellten öffentlich über das damit verbundene Unrecht.
Das änderte sich, als der Bazillus die eigenen Reihen erreichte. Als er dort eine Epidemie auslöste, verfielen die etablierten
»Stände« in eine wahre Panik. – Im Frühjahr 1995 verwandelte sich Amerikas angesehenste Tageszeitung, die
New York Times
, in eine Art Kummerkasten des gehobenen Mittelstands. Anlaß für die Dutzende von Briefen, die das Blatt täglich erreichten,
war eine brillant geschriebene Serie über die wirtschaftliche und soziale Lage der USA im Zeitalter der Globalisierung. Das
Fazit der Recherche: Nachdem der Kapitalismus über eineinhalb Jahrhunderte hinweg parasitär von der Abhängigkeit und der Angst
der kleinen Leute gezehrt hatte, schickt er sich nun, an der Schwelle zum einundzwanzigsten Jahrhundert, dazu an, seinen angestammten
Trägerschichten dasselbe Schicksal zu bereiten. Wie auf ein Stichwort schrieben die sich die Frustration der letzten Jahre
von der Seele. Man muß einige dieser Stimmen vernommen haben, um das Neue und Ungewohnte der
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