Buerger, ohne Arbeit
Reformismus, das klingt wie ein Widerspruch, dem keine Lösung winkt. Um so erstaunlicher,
daß er dennoch zu einer gestaltenden Kraft des Reformgeschehens in einer ganzen Reihe sich entwickelnder wie entwickelter
Industriegesellschaften aufstieg, Sinn und Richtung des heutigen Reformdiskurses wesentlich beeinflußt, oft sogar diktiert.
Die Antwort auf die Frage, wie es dazu kommen konnte, ist ein unverzichtbarer Bestandteil der Diagnose unserer Zeit. Um sie
zu stellen, muß man Vorurteile überwinden, Tarnungen durchschauen, an deren Aufkommen und Verfestigung der Konservatismus
alles andere als unschuldig ist. Ein wahrer Meister symbolträchtiger Inszenierungen, empfiehlt er sich dem Köhlerglauben als
raunender Beschwörer des historischen Imperfekts, als überlebender Repräsentant einer pastoralen Weltsicht, als Spielart des
Traditionalismus. Nur ist der politische Traditionalismus tot, und auch das Mediengeschwätz von »Reformern und Traditionalisten«
wird ihn nicht wiederbeleben. Seine Abdankungsurkunde läßt sich exakt datieren – auf die Französische Revolution; der sie
beglaubigte, hieß Edmund Burke.
|201| 3. Der gebürtige Ire, der als Schriftsteller und Journalist eine ökonomisch unglückliche Existenz führte, 1797 rettungslos
verschuldet in London starb, verfaßte im Jahr 1790 eines der wirkungsmächtigsten Bücher seiner Zeit, die
Reflections on the Revolution in France
. Sein unmittelbarer Zweck erfüllte sich in der Abrechnung mit den britischen Sympathisanten der stürmischen Epochenwende,
in der Warnung vor dem Übergreifen des revolutionären Geistes auf ganz Europa. »In Frankreich scheint es jetzt darauf angelegt
zu sein, die große Heerstraße der Natur in jeder Rücksicht zu verlassen. In Frankreich ist die Regierung nicht in den Händen
der Eigentümer.« 204 Was Burke den Franzosen vorwarf, war deren Verachtung der Tradition, die Illusion eines völligen Neubeginns, den Irrglauben,
die Gesellschaft aus abstrakten Prinzipien neu konstruieren zu können, aus dem Nichts heraus. Rechte und Garantien, die einzig
am Menschen als solchem aufgezäumt würden, weder Unterschiede der Herkunft noch solche des Besitzes respektierten, könnten
niemals Maß der politischen Ordnung sein. Auch seien Staaten nicht dazu geschaffen, natürliche Rechte einzuführen, die in
völliger Unabhängigkeit von allen Staaten existierten; der »freischwebende Staat« der Franzosen sei ein furchterregendes Gespenst. 205
Das Weitere seiner Streitschrift geriet bedächtiger, argumentativer. Als einer der ersten Gegner der Französischen Revolution
begriff der Wahlengländer, daß das verhaßte Ereignis ein nahtloses Anknüpfen ans Herkommen für alle Zukunft ausschloß. Das
störrische Festhalten am Gegebenen, die bloße Konservierung der Zustände, das hatte die letzte Dekade des Ancien régime bewiesen,
war der sicherste Weg zu deren Untergrabung. Wer an der überlieferten Ordnung festzuhalten gedachte, durfte sich rechtzeitigen,
obzwar vorsichtigen Anpassungen nicht verweigern. Das gesuchte Dritte gegenüber zerstörerischem Radikalismus und naivem Traditionalismus
waren Veränderungen, die sich in die Tradition einfügten, sie lebendig erhielten. Verteidigung |202| des geschichtlich Gewachsenen, von der Tradition Geheiligten, im klaren Bewußtsein seiner akuten Gefährdung, »zugleich erhalten
und verbessern«; das war die in die Zukunft weisende Lektion seiner
Reflections
. 206
4. Erbe, Überlieferung, Vermächtnis in der Krise; wer die Tradition in einer Zeit des Umbruchs aller Selbstverständlichkeiten
retten wollte, mußte mit dem Traditionalismus brechen, der revolutionären Partei intellektuell ebenbürtig, mit derselben Grundsätzlichkeit
entgegentreten. Er mußte sich Veränderungen gegenüber aufgeschlossen zeigen, ohne das Ziel, die Verteidigung der Ordnung und
ihres Kerns, des Eigentums, aus den Augen zu verlieren. Wenn sich das Potential zu umstürzlerischen Neuerungen nur durch gezielte
Reformen ersticken ließ, dann Ja und Amen zur Reform. Durchdacht, geistig beweglich, in Grenzen anpassungsfähig, auf konzeptionelle
Weise »reaktionär«, so tritt der Konservatismus in die Welt.
Um die neuen politischen Grundsätze, die er in sie einführte, besser verstehen zu können, mag ein kurzer Seitenblick auf einen
klassischen Traditionalisten hilfreich sein, auf Justus Möser. Rechtsgelehrter wie Edmund Burke, im Dienst geistlicher und
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