Buerger, ohne Arbeit
die definitive Auflösung des altbewährten Junktims von ökonomischer
Existenzgewinnung und gesellschaftlicher Einbindung. Bis hinein ins letzte Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts erschien die
soziale Integration der Individuen als beinahe logische Konsequenz ihrer Einbindung in den wirtschaftlichen Lebensprozeß.
Soziale Integration WAR ökonomische Integration, für den weit überwiegenden Teil der Erwerbsbevölkerung. Seither lockerte
sich dieser Zusammenhang für eine wachsende Zahl von Menschen, und nichts spricht dafür, daß die beiden Integrationsmechanismen
wieder denselben harmonischen Rhythmus finden könnten, im Gegenteil. Mit unerhörter Geschwindigkeit löst sich die Akkumulation
des Kapitals von ihrer Kopplung an die »gute« Arbeit. Produktion unter Einschluß eines dramatisch sinkenden Quantums lebendiger
Arbeit unterminiert die vormaligen Beschäftigungsgewinne wirtschaftlichen Wachstums, und der politische Vorhang, der den Akkumulationstrieb
national einfangen könnte, ist längst zerrissen.
Die dadurch herbeigeführte Krise enthüllt die Autonomie der gesellschaftlichen Integration und untergräbt sie zugleich. Im
selben historischen Moment, in dem die Eigenart und Unabhängigkeit des sozialen Zusammenhalts gegenüber allen anderen Integrationsarten
ins allgemeine Bewußtsein tritt und »an sich« auch realisierbar wäre, geraten die nationalen Sektionen der Weltgesellschaft
unter ökonomische Zwänge, für die es geschichtlich kein Vorbild gibt. Die Frage |194| nach der Autonomie des gesellschaftlichen Individuums stellt sich zum einzig möglichen, aber auch zum denkbar ungünstigsten
Zeitpunkt, zum Zeitpunkt der ins Extrem gesteigerten Unterwerfung sozialer und politischer Prozesse unter ökonomische Mächte
ohne Maß und Schranke. 199
4. Die klassische Soziologie reflektierte die soziale Frage ihrer Zeit im Kontext von Nation und Arbeitsteilung. Arbeitsteilung
bedeutete Spezialisierung ökonomischer und sozialer Funktionen, und je weiter die Teilung und Besonderung dieser Funktionen
voranschritt, desto mehr glich das gesellschaftliche Ganze einem komplexen biologischen »Organismus«. Es »lebte« und gedieh
durch das Zusammenspiel seiner einzelnen Glieder, und jedes einzelne war unverzichtbar für diesen Lebens- und Wachstumsprozeß.
Störungen, Ausfallerscheinungen an einer Stelle wirkten sich auf den gesamten Organismus aus; da alles mit allem zusammenhing,
jedes Glied mit einer lebenswichtigen Aufgabe betraut war, bürgte noch die beiläufigste Teilfunktion für den Fortbestand des
Ganzen. Im Unterschied zum biologischen Organismus waren die Glieder des sozialen Körpers nicht nur belebt, sondern BEMANNT.
Es waren menschliche Individuen, die die verschiedenen Funktionen versahen, mit ihnen verschmolzen. Die wechselseitige Abhängigkeit,
das Angewiesensein aller auf alle im Rahmen einer nationalen Überlebenseinheit nötigte zum gegenseitigen Respekt, zu zivilisierten
Verkehrsformen. Im Zeitalter der »organischen Solidarität«, der allumfassenden »Interdependenz« von Gruppen und Individuen
bedrohte die Mißachtung, Entrechtung, Unterdrückung einer sozialen Schicht unmittelbar das Gemeinwesen selbst. 200
Unlösbar mit der Systemfrage verquickt, bemächtigte sich die soziale Frage der Köpfe und Gemüter. – Heute hat es den Anschein,
als könnten beide Fragen wieder isoliert voneinander betrachtet werden. Die globale Ausfahrt des Kapitals löst die Reichtumsproduktion
von nationalen Horizonten und Ressourcen ab. »Mehr Kapitalismus« bedeutet keineswegs |195| wachsenden Bedarf nach (einheimischen) Erwerbspersonen, die den materiellen Wohlstand produzieren. Mit der Aufkündigung des
historischen Pakts von Kapital und Arbeit lockern sich die wechselseitigen sozialen Verpflichtungen, und zwar einseitig, von
oben nach unten. »Bourgeoisie ohne Proletariat!«, das war einmal, »Bourgeoisie ohne (gute) Lohnarbeit!« lautet die neue Parole
(§ 37.7).
5. Am geschichtlichen Ausgangspunkt der ganzen Problematik stand die gesellschaftliche Einbettung des Individuums der Unterschicht
in eine soziale Welt, die ihm nur wenig Spielraum für persönliche Entscheidungen und »Eskapaden« bot. Durch seine Geburt brachte
der einzelne seine soziale Stellung gleich mit auf die Welt. Sie prädestinierte und verpflichtete ihn zur Wahrnehmung einer
vorgezeichneten Laufbahn innerhalb einer vorab definierten Schicht, wies ihn auf einen fest
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