Buerger, ohne Arbeit
umrissenen Kreis von Stellen hin,
die er bekleiden konnte. Die Mitgift »formulierte« darüber hinaus die Art und Weise, in der die Stelle wahrzunehmen, zu verkörpern
war; Würde, Ehre, Respekt bezogen sich in erster Linie auf das Kollektiv, den Berufsstand, dem der einzelne (zu)gehörte. Die
Krise dieser lange festgefügten Ordnung entband Formen einer zugleich individualisierten und unwürdigen Erwerbsarbeit. Wo
seit alters her eine Antwort war, erhob sich nunmehr eine Frage. Das Individuum verlor seinen unbestrittenen Platz in der
Gesellschaft, durchlief einen Prozeß der sozialen »Entbettung«. 201 Seine Stellung wurde zur abhängigen Variablen der Stelle, die es auf eigene Faust eroberte. Der Doktrin uneingeschränkter
Vertrags- und Willensfreiheit unterworfen, plazierte sich der einzelne im sozialen Raum normalerweise genau dort, wo er durch
den Bonus oder Modus seiner Geburt auch hingehörte.
Die soziale Wiedereinbettung des Individuums seit der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts war ein durchaus künstliches
Phänomen und erfolgte durch erzwungene Korrekturen an der Plazierungslogik des freien |196| Arbeitsmarktes. Das Individuum gewann seine gesellschaftliche Stellung auf Umwegen dadurch zurück, daß seine Stelle politisch,
sozial und rechtlich aufgewertet wurde. War ursprünglich die gesellschaftliche Stellung Anweisung auf eine Stelle, so verhielt
es sich jetzt gerade umgekehrt, rundete sich die Stelle zur institutionell abgesicherten Stellung auf. Seit einigen Jahrzehnten
beobachten wir eine machtvolle Tendenz hin zur erneuten Aufspaltung des Zusammenhangs. Die Arbeitsverhältnisse gehen ihres
kollektiven Status verlustig und im rein individuellen Kontraktverhältnis auf; die Stelle wird – wieder – zur persönlichen
Habe und allein dadurch prekär. Der schrumpfende Vorrat an auskömmlichen Stellen mit Perspektive verschärft die Unsicherheit
des Individuums, dank seiner Arbeit einen anerkannten Platz in der Gesellschaft einzunehmen.
6. Eine zeitgemäße Politik der Arbeit, die die soziale Frage unserer Epoche erfolgversprechend aufgreift, steht aus. Wieder
einmal in der europäischen Geschichte ist das politische Handeln gegenüber der ökonomischen Sphäre in Rückstand geraten. Das
war nicht immer so. Zeiten politischen Vorlaufs wechselten mit solchen des Nachtrabs, und dazwischen schob sich eine Phase
relativer Ausgewogenheit. So steht die Zeitspanne von etwa 1670 bis 1770 für die Konstituierung der modernen Nationen in zunächst
absolutistischem Gewand, für die Herstellung von nach innen befriedeten Sozialräumen, für staatliche Gewalt- und Steuermonopole,
die ausgreifende und störungsfreie ökonomische Transaktionen überhaupt erst ermöglichten. Es waren politische und administrative
Vorleistungen, die nationale Märkte ins Leben riefen. Ein machtpolitisch schon gebildeter Raum wurde durch wirtschaftliche
Verflechtungen, durch Arbeitsteilung und Tausch, nach und nach aufgefüllt. 202 Der Abschnitt von 1770 bis etwa 1870 umfaßt die industrielle Revolution auf kapitalistischer Basis mitsamt ihrem sozialen
Kahlschlag. Staat und Politik gerieten ins Fahrwasser einer entfesselten Marktökonomie, die sich vor allem des freien Arbeitsmarktes
bediente, |197| um die Gesellschaft in eine Marktgesellschaft zu verwandeln; absoluter Vorrang ökonomischer Imperative gegenüber politischer
Steuerung.
Mit menschheitlichen Katastrophen reichlicher gesät als jede andere Geschichtsepoche, dürfte die Zeit von 1870 bis ungefähr
1970 unter dem hier maßgeblichen Gesichtspunkt dennoch als eine Ära der Balance, des Ausbalancierens, in die Historie eingehen.
Der die Gesellschaft bis dahin »führende« ökonomische Verflechtungszusammenhang wurde innerhalb der Nationalstaaten sozial
eingeholt, rechtlich geregelt und einvernehmlichen Prämissen unterworfen; Jahrzehnte des politischen Aufholens und Nacharbeitens.
Und die Zeit seither, der Abschnitt 1970 bis X, welchen Namen wird er einmal führen? Wird es bei der Bestimmung bleiben, die
wir gegenwärtig treffen müssen: Ausbootung politischer Koordination und Steuerung durch eine sich globalisierende Ökonomie,
Erzeugung der Weltgesellschaft mit rein ökonomischen Mitteln? 203 Oder vermag politisches Handeln den Rückstand noch einmal wettzumachen, sich auf derselben Ebene anzusiedeln und zu behaupten,
auf der sich die ökonomischen Akteure heute weitgehend unbehelligt tummeln?
7.
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