Buerger, ohne Arbeit
Staatsrechtler, der dem
Grundbesitz gefühlsmäßig und intellektuell näher stand als dem Bürgertum, hob den bis dahin schlummernden Streit mit dem Reformflügel
um Hardenberg auf eine prinzipielle Ebene, als er im Jahr 1809 seine
Elemente der Staatskunst
publizierte. Wie der von ihm bewunderte Burke, kritisierte er den »Wahn« der Revolutionäre, den Staatskörper als bloßen Mechanismus
zu betrachten, als große Maschine, die sich nach einem rationalen Bauplan konstruieren und perfektionieren läßt. Statt dessen
sei er ein »organisches Ganzes«, das die Gesellschaft mitsamt ihren Gliederungen umfasse, nach innen wie nach außen integriere.
Was in Friedenszeiten leicht übersehen werde – daß es kein Denken, Fühlen, Leben außerhalb des Staates gibt, daß jedes individuelle
Dasein unlösbar mit der höheren Staatsidee verwoben ist –, spüle der Krieg in die Wahrnehmung zurück.
»Der Staat ist die Totalität der menschlichen Angelegenheiten, ihre Verbindung zu einem lebendigen Ganzen.«
218 Als solche Totalität ist er dynamisch, in steter Bewegung begriffen, nie abgeschlossen, ein unendliches Projekt, dessen Sinn
sich in der Geschichte zugleich enthüllt und verbirgt; was der Staat »ist«, zeigt sich erst am Ende aller Tage. Als »Werdeeinheit«,
von der man nur eine Idee haben kann, keinen fertigen Begriff, |214| ist der Staat das denkbar falscheste Objekt für radikale Umgestaltungen, eitle Interventionen, die den Strom des politischen
Lebens abstrakten Leitsätzen gemäß skandieren wollen. Reformer, die vom Gedanken der »Organisation« besessen sind, bereit,
das »Organische« der Machbarkeit zu opfern, fallen in dieselbe Untugend wie die revolutionären Umstürzler, und für Müller
ist es keineswegs ausgemacht, welche Art der »Raserei« auf längere Sicht größeren Schaden anrichtet, die heiße oder die mit
kaltem Blut.
Echte Staatskunst und wahre Reform erfüllen sich in der Vermittlung und Versöhnung von Widersprüchen; dem Widerspruch zwischen
Vergangenheit und Zukunft, Veränderung und Beharrung, persönlichem und gemeinschaftlichem Glück, Jugend und Alter, Obrigkeit
und Volk. Reformen tragen der Bewegung Rechnung, dem Fluß der Zeit und streben Ausgleich, Balance, Einheit der Gegensätze
an. Sie folgen keinem Lehrbuch, ihre einzig berufenen Ratgeber sind das feine Gespür für Disharmonien und die Intuition für
den rechten Augenblick der Ausgleichshandlung. »Alle Ungleichheit auf Erden ist dazu da, daß sie auf eine zugleich natürliche
und schöne Weise vom Menschen aufgehoben, alle Dissonanz, daß sie vom Menschen gelöst werden soll; die Natur reicht dem Menschen
unaufhörlich ungleiche Dinge hin, damit er ins unendliche etwas auszugleichen habe, und das ganze Leben des wahren Menschen
ist nichts anderes als ein Ausgleichen des Ungleichen, ein Verbinden des Getrennten.« 219 – Nicht das Durchstellen von oben ist das Erkennungsmerkmal des Reformers, vielmehr seine feine Witterung, dank derer er
der Gesellschaft als kluger Mentor des Staatsinteresses den Weg zu weisen weiß; nicht Zwangsegalisierung kennzeichnet das
gelungene Werk, sondern freiwilliges Sichfügen des einzelnen in seine Stellung und seinen höheren Auftrag. Statt den nationalen
Zusammenhalt als letztlich seelenloses Räderwerk zu konzipieren, muß man ihn als Frucht des gegenseitigen Respekts der Stände,
der freien und selbstlosen Liebe zur Idee des Staates |215| ehren lernen. Der organische Konservatismus Müllers belebt die traditionalistische Folklore in sich neu und verbindet sie
mit der Vorstellung einer Pflicht aus Freiheit; ein durchaus kritischer Gedanke in der Welt des Absolutismus.
2. Was damit gemeint war, führte ein anderer näher aus, Heinrich von Kleist, Dramatiker und Erzähler, politischer Geist aus
Leidenschaft und zu seinem persönlichen Unglück. Mit den führenden preußischen Reformern, daher auch mit ihrem heimlichen
Familienzwist bekannt, machte er sich Müllers Position auf souveräne Art zu eigen. Die Lehre des Philosophen vom Staat als
einem Kunstwerk steigerte er zu einer furiosen poetischen Lektion über den Ungehorsam als Plage UND als Lebenselixier des
guten Staats. – Der
Prinz von Homburg
, die Schlacht bei Fehrbellin, die Fabel ist bekannt genug, in groben Zügen. Prinz Friedrich Arthur von Homburg, General der
kurfürstlichen Reiterei, hatte seinem Herrn, dem brandenburgischen Kurfürsten, gelegentlich früherer
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