Buerger, ohne Arbeit
in einer monarchischen Regierung: dieses scheint mir
die angemessene Form für den gegenwärtigen Zeitgeist. Die reine Demokratie müssen wir noch dem Jahre 2440 überlassen, wenn
sie anders je für den Menschen gemacht ist.« 212
6. Zum Programm erhoben hieß das im einzelnen: Regierungs- und Verwaltungsreform, professionelles Regierungshandeln, nach
dem Ressortprinzip gegliederte Administration; Umwandlung autokratischer Herrschaft in einen bürokratisch-rationalen Obrigkeitsstaat
durch Aufteilung des Landes in Regierungsbezirke, Verstaatlichung der Verwaltung, Kreis- und Kommunalreform, größere Selbständigkeit
der Kommunen, Recht derselben, über Steuern und Abgaben mitzuentscheiden, Städte als Orte bürgerlicher Partizipation am Gemeinwesen;
Avancement nach Leistung statt Geburt: »Jede Stelle im Staat ohne Ausnahme sei nicht dieser oder jener Kaste, sondern dem
Verdienst und der Geschicklichkeit und Fähigkeit aus allen Ständen offen«; 213 Agrarverfassung, Aufhebung der Leibeigenschaft, Bauernbefreiung, Freiheit des Güterverkehrs und der Berufswahl; Gewerbefreiheit,
Aufhebung staatlicher Monopole und Privilegien, umständlicher Befähigungsnachweise und Konzessionen; Steuerreform: »In Hinsicht
auf die Freiheit der Abgaben treten verschiedene wichtige Betrachtungen ein. Eine völlige Gleichheit sollte aus vielen Gründen
auch hiebei stattfinden«; 214 Heeresreform, der Soldat als Bürger, allgemeine Wehrpflicht, Säuberung des Offizierskorps, Leistung statt Herkunft als einziges
Zugangs- und Aufstiegskriterium, innere Demokratisierung gar der Heeresverfassung: »Die Unteroffiziere |212| würden von den gemeinen Soldaten nach der Mehrheit gewählt, die Offiziere ersten Grades von den Unteroffizieren …«; 215 Bildungsreform mit der Universitätsreform als ihrem Kernstück, Verstaatlichung der Bildung, der Staat wird Schulstaat, Bildung
selbst zur säkularen Religion und allgemeinen Grundlage der nationalen Erweckung (»Zivilreligion« der zu spät kommenden Nation) 216 ; Reform des Justizwesens durch Ausdünnung der Instanzen, einheitliche Prozeßordnung, universell zugängliche Revisionsverfahren;
undogmatische Glaubenspraxis, Religiosität ohne Religionszwang: »Nach welchem positiven Lehrbegriff der Mensch zu dieser Religiösität
gelangt, ist nicht wesentlich.« 217
7. Nicht alle Vorhaben gelangen, manche, wie die Steuer- und Heeresreform, scheiterten am Widerstand des Adels, der auch die
Kreisreform blockierte, andere blieben im Ansatz stecken oder versandeten im störrischen Behördengang. Nach dem definitiven
Sieg über Napoleon und der restaurativen Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongreß erlahmte der Reformprozeß jäh; Wilhelm
von Humboldts Ausscheiden aus dem Staatsdienst 1819 markierte das Ende. Dennoch: ein beeindruckendes Unternehmen, trotz der
sehr unterschiedlichen politischen Temperamente der beiden maßgeblichen Protagonisten, Stein und Hardenberg. Was den erklärten
Anti-Absolutisten Stein und den bekennenden Etatisten Hardenberg verband, das frühzeitige Auseinanderbrechen der Reformkoalition
verhinderte, war ihr gemeinsames Credo, sich von der Revolution »inspirieren zu lassen, um ihr besser Widerstand leisten zu
können«, war, in Zeiten höchster äußerer Gefahr, ihr preußischer Patriotismus. »Reform als Revolution im guten Sinne«, so
hieß die Verständigungsformel, die Differenzen und Konflikte zügelte. Im von unmittelbar praktischen Rücksichten entbundenen
Denken brachen die latenten Widersprüche jedoch auf, nicht zufällig zu ungefähr jener Zeit, in der sich die Wachablösung vollzog,
Stein abdankte und Hardenberg das Zepter übernahm.
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§ 26 Konservative Familienstreitigkeiten
1. Der politische Konservatismus definierte sich durch sein Verhältnis zur Revolution, die er ablehnte und zugleich entbehrlich
machen wollte. Strittig im konservativen Lager war, wie weit man in der Nachahmung ihrer Resultate gehen durfte, ohne sich
selbst dem Verdacht revolutionärer Ambitionen auszusetzen. Hardenberg ging in dieser Hinsicht sehr weit, speziell in seiner
Denkschrift, als Programmatiker, wo er trotz aller Staatsfixierung unverkennbar mit liberalen Grundsätzen liebäugelte. Für
Adam Müller, den Philosophen des »organischen Konservatismus«, hatte er das berechtigte Anliegen der »Reformpartei« dadurch
auf unverantwortliche Weise diskreditiert. Der Sohn eines preußischen Finanzbeamten und angesehene
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