Bullenball
dass die Tür gar nicht verschlossen war.
»Hallo? Frau Lütke-Zumbrink? Sabrina?«
Keiner antwortete.
Sie trat in den stillen Festsaal. Alles sah aus wie immer, wenn sie
hier probten. Doch dann bemerkte sie es: Die Holzbühne und die Stühle der
Jazzband waren beschmiert worden. Einer hatte mit einer Spraydose in großen
Buchstaben »Hass« geschrieben, wobei das doppelte S die Form von Runen trug,
wie bei der Waffen- SS . Drumherum Hakenkreuze und Totenköpfe. Es
war eine einzige Sauerei.
Fassungslos trat Marie näher. Die Eingangstür fiel hinter ihr ins
Schloss. Sie starrte die Schmierereien an. Hinter ihr knarrte eine Diele. Da
fiel ihr der Vorhang ein, der sich gerade noch bewegt hatte. Sie wirbelte
herum. Doch es war schon zu spät. Sie konnte den Mann nicht erkennen, da war
nur ein Schatten. Im nächsten Moment spürte sie einen harten Schlag gegen den
Hinterkopf, und bevor sie begriff, was passierte, gingen ihr schon die Lichter
aus.
Erneut waren bleigraue Wolken am Horizont aufgezogen. Sie
verdunkelten den Himmel und hingen regenschwer über dem Land. Ein kalter Wind
kam auf.
Adelheid stand am Fenster und sah reglos hinaus. Das tat sie schon
seit einer Ewigkeit, einfach dastehen und hinausblicken. Ihre Mutter war wütend
auf sie, weil sie sich nicht auf den Bullenball freute, wie man es von ihr
erwartete. Wo das alles doch so viel Geld kosten würde. »Das Kleid, die
Eintrittskarten, die teuren Getränke – und alles nur wegen dir! Und was machst
du? Du läufst herum wie sieben Tage Regenwetter. Das soll einer mal verstehen!«
Ihre Eltern saßen jetzt unten beim Abendbrot. Adelheid hatte sich
entschuldigt – Kopfschmerzen. In Wirklichkeit wollte sie einfach nur allein
sein.
Der König war offline. Immer noch. Sie fühlte sich verloren, völlig
alleingelassen. Keiner war da, mit dem sie reden konnte. Keiner, der sie
verstand. Was sollte sie nur tun? Wie diese Last ertragen? Warum ließen ihre
Eltern sie denn nicht einfach in Ruhe?
Draußen begann es zu dämmern. Sie legte den Finger an die Scheibe.
Die war angenehm kühl.
»Du mein König«, murmelte sie.
10
Ein seltsames Gefühl hatte von Marie Besitz ergriffen.
Nicht Angst, wie sie zunächst gedacht hatte. Auch nicht Wut. Sie fühlte sich
eher ohnmächtig. Überrannt. Wehrlos.
Dabei hätte alles noch viel schlimmer ausgehen können. Sie hatte
einen Einbrecher überrascht, der sie daraufhin niedergeschlagen hatte. Doch
mehr als eine Beule am Hinterkopf hatte der Notarzt nicht feststellen können.
An der Wand gegenüber blätterte der Putz ab. Ein kleines Loch hatte
sich bereits gebildet, durch das sie bis aufs Mauerwerk blicken konnte. Auf den
Linoleumboden war Mörtel gerieselt.
»Marie?«
Sie sah auf. Simon, ein alter Schulfreund von ihr, der bei der Nottulner
Polizei arbeitete, stand in seiner Uniform hinter dem Wachtresen. Er lächelte
ihr zu.
»Es kann jetzt losgehen, wenn du willst.«
»Gut.« Sie stand auf und folgte ihm in den Nebenraum, wo er sich an
einen Computertisch setzte und sie mit einer einladenden Geste bat, auf dem
Besucherstuhl Platz zu nehmen. Marie trat näher.
»Hier arbeitest du also?«
Sie sah sich um. Ausgeblichene Wände, Fahndungsplakate und das kalte
Licht der Leuchtstoffröhren. Alles wirkte ein bisschen trostlos.
»Zumindest, wenn ich im Innendienst bin«, sagte Simon. »Nicht gerade
gemütlich hier, aber es geht schon. Meistens bin ich eh draußen. Ihr wolltet
längst mal vorbeikommen, um mich zu besuchen.«
Richtig, das hatten sie damals gesagt. Doch als die Schule vorbei
war, hielt sich keiner mehr an solche Versprechungen. Das Leben fing an, wer
interessierte sich da noch für langweilige Exmitschüler?
»Irgendwie ist immer etwas dazwischengekommen«, sagte sie.
»Na ja, ihr studiert ja jetzt alle in Münster. Das ist bestimmt
aufregender, als hier im langweiligen Nottuln in einer Polizeiwache zu sitzen.«
»Wir sollten mal ein Klassentreffen machen. Das wäre bestimmt
spannend.«
Seinem Blick nach zu urteilen, hatte er durchaus gemerkt, dass Marie
das nur so dahingesagt hatte. Sie spürte den Anflug eines schlechten Gewissens.
Aber schließlich hatten sie schon während der Abiturzeit kaum noch miteinander
zu tun gehabt. Warum sollten sie da jetzt auf gute Freunde machen?
Simon setzte ein geschäftliches Gesicht auf. Er brachte sich vor der
Tastatur in Position und begann umständlich zu tippen.
»Ich gebe nur schnell die Angaben zur Person ein, das können wir
dann überspringen. Sag noch
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