Bullenball
Pappmascheefüße, dann die Strumpfhose und schließlich den Overall.
»Jetzt mach schon. Wir müssen uns beeilen.«
Niklas betrachtete das Kostüm und schüttelte den Kopf. Dann blickte
er auf und lächelte. Plötzlich sah Jule das vertraute Kleinejungenlächeln
wieder, das sie schon seit einer Ewigkeit nicht mehr an ihm gesehen hatte. Seit
Beginn seiner Pubertät, um genau zu sein. Sie spürte einen Stich. Allein dafür,
dachte sie, hat sich das alles schon gelohnt. Wenn es nur für einen Moment
wieder so war wie früher.
Als er verkleidet vor ihr stand, stieß sie ein Lachen aus. Das
Kostüm war ein Albtraum.
»Ich kann wohl nicht darauf hoffen, dass es mir besser steht«, sagte
sie.
Vorsichtig prüfte sie, ob die Luft rein war. Dann zog sie die Kapuze
über, und sie schlichen gemeinsam nach unten zur Küche. Ihre Eltern würden
niemals darauf achten, wer sich unter der Kapuze verbarg. Eines der Mädchen aus
der Horde, würden sie denken, mehr nicht.
Unten herrschte lautes Gegacker und Gekicher.
»Ihr habt wirklich keinen Stripper engagiert?«, hörte sie eine
Stimme rufen.
»In der Halle Münsterland?« Das war Marie. »Wie soll denn das
gehen?«
»Dann muss eben einer der Jungs aus Jonas’ Gruppe für uns strippen.«
»Ich bin für Bertold Lütke-Sprömering!«, rief eine. Ein Milchbauer
aus Brook und alles andere als eine Augenweide.
»Oh nein! Da können wir besser eine seiner Kühe an der Stange tanzen
lassen, das ist erotischer.«
Jule beugte sich über das Geländer und gab Uli ein Zeichen. Die
wiederum nickte ihr zu. Sie hatte verstanden.
»Es geht los!«, ging sie dazwischen. »Kommt schon, Mädels. Wir
verpassen sonst unseren Bus.«
Gläser wurden abgestellt, Jacken gegriffen, Lippen nachgezogen. Die
Karawane setzte sich in Bewegung. Jule stieß den verkleideten Niklas nach vorn,
er reihte sich neben Marie in die Frauengruppe ein. Die hakte sich eilig bei
ihm unter, damit keiner etwas merkte. Ihre Eltern tauchten in der Wohnzimmertür
auf und beobachteten mit erleichtertem Lächeln, wie die jungen Frauen langsam
davontrotteten.
Jule hielt den Atem an. Niklas grüßte, ihre Eltern winkten zurück,
dann war alles vorüber. Er war draußen. Uli trat auf Jule zu und legte ihr den
Arm um die Schulter. Beide taten, als wären sie in ein Gespräch vertieft, während
sie den anderen nach draußen folgten. Dann hatten auch sie es geschafft. Die Tür
schloss sich hinter ihnen. Es hatte funktioniert.
Jule atmete auf. Bevor sie die Kapuze abnahm, wartete sie, bis die
Gruppe den Hof hinter sich gelassen hatte. Erst an der Haltestelle hinter der
Scheune gab sie sich zu erkennen. Jetzt nahm auch Niklas den Pappmascheekopf ab
und zeigte ein triumphierendes Lächeln.
Die Überraschung war riesengroß. Die Frauen reagierten mit
schallendem Gelächter. Schnell war die Situation erklärt, und Jule und Niklas
wurden als Helden gefeiert. Niklas wurde umringt von Jules Freundinnen, die gar
nicht genug bekommen konnten von ihm und seinem Kostüm.
Jule und Uli standen ein wenig abseits und beobachteten das Treiben.
Jule bemerkte, wie ihre Freundin nachdenklich wurde. Sie sah Uli fragend an.
»Ach, ich finde es nur schön, wie gut ihr euch versteht. Du und
Niklas. Ich fand euer Verhältnis immer toll.«
»Ach was. Das sieht doch nur so aus. Früher haben wir uns vielleicht
gut verstanden, aber seit er vierzehn ist, gehört das der Vergangenheit an.«
»Aber ich habe immer … Ach, ich weiß auch nicht. Wo bleibt
eigentlich der Bus?«
Uli fixierte den Horizont, als könnte sie dadurch sein Auftauchen
heraufbeschwören.
»Der kommt nie pünktlich«, sagte Jule.
»Ben ist heute Abend auch auf dem Bullenball. Er arbeitet dort an
einem Stand.«
»Ben?« Das war Jule neu. »Warum sagst du das denn erst jetzt?«
»Weil ich es selber gerade erst erfahren habe. Marie hat Ben wohl
zufällig in Münster getroffen. Da hat er ihr das erzählt.«
Jule runzelte die Stirn. »Vielleicht hatte er ja keine Ahnung, dass
wir auch kommen. Sonst hätte er dir bestimmt etwas davon gesagt.«
»Quatsch. Wir reden ja sowieso kaum noch miteinander. Und wenn, dann
zicken wir uns an.« Uli schüttelte den Kopf, als wollte sie Ben aus ihren
Gedanken vertreiben. »Dieser Idiot. Sollte mir eigentlich egal sein, was der
macht.«
Jule wollte etwas erwidern, doch sie hatte das Gefühl, es sei besser
zu schweigen. Sie sah auf die Uhr. Am Ende der Straße war noch immer nichts zu
erkennen. Mit einem Seitenblick vergewisserte sie sich,
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