Bullet Boys
sie im Mondlicht. Ohne Schuhe komme ich nirgendwohin. Nachdem ich darüber ein paar Minuten lang nachgedacht habe, treffe ich meine Entscheidung und beuge mich über meinen Freund. Sein Mund steht auf, die Augen hat er fest geschlossen. Der erste Knoten ist schwierig. Der Schnürsenkel ist nass und dreckig und meine Finger sind steif, aber nach einer Weile habe ich ihn auf. Dann halte ich die Luft an und ziehe Levi den Schuh vom Fuß. Ich rutsche zur Seite und probiere ihn an. Es ist, als liefe ich auf Kissen. Sogar meine Blasen melden sich nicht. Ohne Zögern mache ich mich an den anderen Schuh. Diesmal ist es ein bisschen schwieriger, denn der Fuß liegt ein bisschen verkantet. Levi bewegt sich und seinBein rutscht auf die falsche Seite. Falls Levi aufwacht, werde ich ihm sagen, ich wollte ihm nur die Schuhe ausziehen. Levi würde niemals auf die Idee kommen, ich täte das, was ich tue. Der Schuh gleitet vom Fuß, er ist feucht-warm und auch Levis Fuß strahlt Wärme aus. Einen Moment lang betrachte ich Levis schlafendes Gesicht und überlege. Dann ziehe ich meinem Freund vorsichtig die Uhr vom Handgelenk und mache sie an meinem fest. Die dicken Wollsocken lasse ich Levi da, packe aber das ganze Essen in die gestohlene Tasche und hänge sie mir über die Schulter. Levi wird mich verstehen. Er kann die Pfadfinderinnen um was zu essen bitten. Er wird schon klarkommen, aber für mich steht alles auf dem Spiel.
Ich krieche weg, um den Hügel herum, hinein in die Dunkelheit.
VIER UHR MORGENS
Die Uhr zeigt vier Uhr morgens. Fünf Stunden lang bin ich schon gelaufen. Ab und zu bin stehen geblieben und habe etwas gegessen oder mithilfe der gestohlenen Taschenlampe auf die gestohlene Karte geguckt. Meine Beine tun höllisch weh. Die Schuhe sind weich und bequem. Ganz kurz quälen mich Skrupel wegen Levi. Was wird mein Freund machen, wenn er mitten im Dartmoor aufwacht, ohne Schuhe, ohne Essen, ohne Uhr? Aber Levi ist ein guter Mensch. Er weiß, wie übel ich dran bin. Der findet das bestimmt komisch. Wenn das hier vorbei ist und wir wieder in der Schule sind, werden wir alle an unserem Lieblingstisch in der Cafeteria sitzen und uns kaputtlachen.
»… Und dann … dann hast du mir die Schuhe geklaut!«, wird Levi sagen und seine Stimme wird sich überschlagen.
Nach ein paar weiteren Metern tun meine Beine nicht mehr einfach nur weh, sondern sie schmerzen richtig. Jeder Schritt fühlt sich an, als würde ich die Muskeln meiner Waden und Oberschenkel bis zum Anschlag strapazieren. Ich bin in flachem Moorland, wo das Farnkraut in dichtenBüscheln wächst und das Gras kurz geschoren ist. Im Osten färbt sich der Himmel rosa und die Vögel fangen an zu singen.
Ich muss eine Pause machen. Ich bin ziemlich sicher, dass mir niemand folgt. Dazu bin ich schon zu weit gekommen, und auch das komische Prickeln im Nacken ist weg, das mich dazu bringt, stehen zu bleiben und mich umzugucken, mir ein Gesicht vorzustellen, das mich beobachtet. Ich schlage die Karte auf, schnipse die Schafköttel von einem großen flachen Stein und breite darauf die Karte aus. Dieser Gipfel vor mir könnte der Sharp Hügel sein und dann wäre der Hügel da im Westen der Hare Hügel. Wenn ich mich weiterhin südwestlich halte, werde ich auf die A 386 stoßen, irgendwo zwischen Tavistock und Lydford. Dann weiß ich wirklich, wo ich bin.
Aber ich muss mich ausruhen. Wenn ich jetzt weitergehe, mache ich mich kaputt. Ein paar Meter weiter ist eine kleine Senke, die von schweren, flachen, beinahe rechteckigen Steinen flankiert ist. Von den obligatorischen Risings-Schulausflügen habe ich so viel behalten, dass diese Dinger Steinkisten heißen und prähistorisch sind. Ich falte meine Karte zusammen und gehe durchs Heidekraut. Ich setze mich neben die Steinkiste und esse das letzte feuchte Käse-Tomaten-Brot. Dann lege ich mich in die Steinkiste, als wollte ich sterben. Jetzt bin ich zumindest von Weitem unsichtbar. Ich ziehe mir den Schlafsack über die Ohren. Der Wind wird stärker. Grashalme und Heidekraut rascheln an meinem Schlafsack. Die Morgenwolken rasen über den heller werdenden Himmel. Ich schließe die Augen.Alex hatte nicht wirklich geschlafen. Die Nacht war zu kalt gewesen. Er hatte sich in alles gewickelt, was er bei sich trug, aber das hatte immer noch nicht gereicht. Die Wildhüter-Kate war vermutlich nur etwa drei Stunden entfernt, aber er durfte Baz nicht aus den Augen verlieren, und der Hauptfeldwebel hatte ihm gesagt, er solle hier an
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