Bullet Catcher - St. Claire, R: Bullet Catcher
worden war. Er fühlte sich schwer an, viel schwerer als ein normaler Spiegel.
Sie hielt ihn sich vor das Gesicht und betrachtete ihr Spiegelbild. Was Taliña wohl gesehen hatte? Eine Närrin? Ein Hindernis auf dem Weg zu ihrem Ziel?
»Hier geht es nach Maya-Land ab«, sagte Fletch.
»Ein Jammer, dass so eine atemberaubende und kompetent errichtete Anlage durch kriminelle Machenschaften finanziert wurde«, sagte Miranda bekümmert. »Und sie sollte nicht allein für Partys verwendet werden. Das Ganze ist wie ein gigantisches Freilichtmuseum. Studenten könnten fantastische Exkursionen hierher machen. Es ist die einmalige Chance, alte Geschichte hautnah zu erleben – für jeden, den es interessiert, nicht nur für Archäologen und Anthropologen.« Sie schüttelte den Kopf und dachte über die unermesslichen Möglichkeiten nach. »Es wäre so viel besser, sich hier draußen mit den Maya zu beschäftigen als immer nur in Seminarräumen oder Hörsälen.«
Sie hing immer noch dieser Idee nach, als sie am Tor ankamen. Er neigte den Kopf zur Seite, damit sie näher kam. »Komm, sie soll deine Stimme hören.«
Doch niemand reagierte auf ihr Läuten. Adrien legte erneut den Finger auf den Knopf und ließ ihn gedrückt, um dann die Mauer zu betrachten, die das Anwesen umgab. »Ich könnte rüberklettern.«
»Los, gehen wir.«
Er grinste sie an. »Ich glaube, ich habe einen schlechten Einfluss auf dich. Dein Elan gefällt mir, aber lass mich erst mal vorgehen und sehen, ob ich das Tor nicht von innen öffnen kann.«
Er ließ den Motor laufen und stieg aus. Die Mauer wirkte wenig beeindruckend, wenn man bedachte, dass sie eine flüchtige Gesetzesbrecherin schützen sollte. Im Nu hatte er seinen muskulösen Körper auf den Mauerkranz geschwungen. Oben angekommen warf er wie ein siegreicher Krieger sein Haar zurück, um dann in die Knie zu gehen und auf der anderen Seite hinunterzuspringen.
Miranda rutschte über die Mittelkonsole auf den Fahrersitz, während Adrien sich daran machte, das Tor zu entriegeln. Kaum fünf Minuten später rollte es zur Seite. Ein übermütiges Grinsen im Gesicht, stieg er auf der Beifahrerseite ein.
»Sehr beeindruckend, Mr Fletcher. Wie überhaupt alles an Ihnen.«
Sie fuhr die kurvenreiche Straße entlang und die steile Anhöhe hinauf bis zu der Felskante, von der aus Canopy zum ersten Mal sichtbar wurde.
Miranda betrachtete die Landschaft diesmal mit ganz anderen Augen. Sie stellte sich die ganze Anlage als Museum und Bildungszentrum vor und begann unwillkürlich Pläne zu machen – es war ein aufregender Gedanke.
»Würdest du denn die Uni je verlassen?«, fragte Fletch, der ihr Mienenspiel beobachtete.
»Eine verlockende Vorstellung«, sagte sie. »Ich liebe es, über die Maya zu forschen und zu lehren. Aber ich hasse den gnadenlosen Druck der akademischen Welt.«
Die Straße mündete in einen gepflasterten Weg, über den beiderseits Äste ragten und einen Tunnel bildeten. An bewölkten Tagen wie heute war es hier drinnen richtig dunkel und seltsam schaurig. Umso unvermittelter öffnete sich dahinter der atemberaubende Anblick auf den pyramidenförmigen Palast mit seinem hoch in den Himmel ragenden Turm und auf die beiden kleineren Tempel, die das Gebäude im Norden und Süden flankierten. Als sie das letzte Mal hier gewesen waren, hatten zu Füßen der massiven Stufen mindestens ein Dutzend Autos gestanden. Heute waren keine da. Canopy fühlte sich ebenso verlassen an wie sein Vorbild, die Stadt Palenque, Jahrhunderte, nachdem ihre berühmten Bewohner gestorben waren.
»Wo sind die alle?«, hauchte sie in die Stille hinein.
Keine anmutige Schönheit kam die hohen, weiten Treppen herabgeschwebt, kein livriertes Personal wimmelte umher – nirgends das geringste Lebenszeichen. Miranda parkte den Wagen, steckte ihr Telefon und die Spiegelscherbe in ihre Tasche und stieg aus.
Abermals betrachtete sie staunend, wie sehr die steinerne Replik ihrem Vorbild, der Tempelanlage von Palenque in ihrer Blütezeit, ähnelte, wie gekonnt sie in die Hügellandschaft eingefügt war, als hätte Mutter Natur sie selbst dort hingepflanzt.
In Wahrheit war dieses Monument von einer Kriminellen errichtet worden, die sich von ihrem Partner ihre abseitigen Neigungen finanzieren ließ.
Wo steckte sie?
Die Hände in die Seiten gestützt, stand Adrien neben ihr, die Augen, denen nie etwas entging, hinter einer Sonnenbrille verborgen. »Irgendwas stimmt hier nicht.«
»Es fühlt sich so verlassen an.«
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