Burgfrieden
Studenten und vor allem das seines Neffen entschuldigt und es als Dummejungenstreich heruntergespielt. Die besorgten Mienen der beiden Männer redeten allerdings eine andere Sprache.
Wenigstens war Tina rasch wieder zu sich gekommen und hatte ihren kurzen Schwächeanfall damit erklärt, dass sie kein Blut sehen könne. Auch Lukas’ Verletzung war weniger schlimm gewesen, als es im ersten Moment ausgesehen hatte. Francesca hatte mit ihrer Erste-Hilfe-Maßnahme die Blutung zum Stoppen gebracht, offenbar war nichts gebrochen, nur eine Ader geplatzt. Dann waren sie alle zu Georg Kofler in den Van gestiegen, den Lenz gerufen hatte. Tina und sie hatten sich auf dem Vordersitz zusammengedrängt, so war es ihnen gelungen, trotz einer überzähligen Person in dem Siebensitzer Platz zu finden. Denn keiner hatte mehr die Kraft oder die Lust, den Fußmarsch anzutreten, und Georg hatte ausnahmsweise und weil zu dieser Stunde keine Kontrollen mehr zu erwarten waren, ein Auge zugedrückt.
Jenny sah auf die Zeitanzeige ihres Handys: Viertel nach acht. In 15 Minuten würden sie aufbrechen. Gefrühstückt hatte sie schon, sich gleich nach dem Aufwachen bei Maria einen Espresso und ein Brioche geholt und die Mahlzeit auf ihrem Balkon eingenommen. Sie hasste Konversation am frühen Morgen und entwickelte daher immer neue Strategien, sich dieser lästigen Pflichtübung zu entziehen. Auch heute war es ihr wieder gelungen. Trotz der Aufregungen des gestrigen Abends fühlte sie sich fit und ausgeruht. Der Tag konnte beginnen.
*
Ein vernehmliches Klopfen ließ sie aufschauen, als sie gerade die Schnürsenkel ihrer Sneakers zuband. Auf ihr »Herein« stürzte Arthur Kammelbach förmlich in den Raum. Ihr fröhliches »Guten Morgen« erstarb ihr bei seinem Anblick auf den Lippen. Der Professor sah grauenvoll aus. Seine Haut war fahl, dunkle Ringe umrandeten seine Augen. Der sonst so beherrschte Mann wirkte völlig außer sich.
»Bitte verzeih mir, dass ich hier so hereinplatze. Aber es ist etwas Schreckliches passiert.« Arthur musste ihre besorgte Miene missverstanden haben, wenn er sich zu einer Entschuldigung genötigt fühlte. Sie beeilte sich daher, ihm zu versichern, es gebe nichts zu verzeihen, und wies mit einer einladenden Handbewegung auf die beiden Sessel im Neorokoko, die sich in ihrem Zimmer befanden. Nachdem Arthur etwas skeptisch auf einem der zierlichen Stühle Platz genommen hatte, schloss sie vorsichtshalber die Balkontür – schließlich sah es ganz so aus, als hätte der Professor etwas auf dem Herzen – und setzte sich ihm gegenüber.
Arthur warf ihr einen gequälten Blick zu, dann begann er zu sprechen:
»Um es kurz zu machen: Ich habe grade einen Anruf von Blasius erhalten. Die Handschrift ist weg.« Jetzt war es heraus.
Jenny stellte fest, dass sie nicht einmal besonders überrascht war. Nach allem, was seit ihrer Ankunft passiert war, erschien ihr dies wie der logische Höhepunkt einer ganzen Serie unglückseliger Zwischenfälle. Was sie sich allerdings nicht erklären konnte, war, warum Arthur mit der schlimmen Nachricht ausgerechnet zu ihr kam. Sich an Dozentin Schmied-Schmiedhausen oder seinen wissenschaftlichen Kollegen Lenz Hofer zu wenden, wäre ihr naheliegender erschienen.
Diesmal las Arthur ihre Gedanken richtig.
»Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass du als Außenstehende die Einzige bist, die die nötige Distanziertheit aufbringt, um die Sache nüchtern zu betrachten. Deshalb bin ich als erstes zu dir gekommen.« Der Professor war zu seiner druckreifen Sprechweise und nüchternen Art zu argumentieren zurückgekehrt. Das immerhin ließ Jenny neue Hoffnung schöpfen: Arthur wollte das Problem lösen und suchte dafür ihre Hilfe. Damit konnte sie gut umgehen, denn bei ihren Kunden war es im Prinzip ähnlich. Und nicht anders als bei einem Klienten, wenn der sie empört anrief, weil eine Zeitung über ihn schlecht oder über einen Konkurrenten gut berichtet hatte, ging sie jetzt beim Professor vor. Sie bat ihn, ihr die ganze Sache von Anfang an zu erzählen.
Genau das tat Arthur dann auch. Kurz nach acht Uhr morgens war er nach dem Frühstück auf sein Zimmer zurückgekehrt. Kaum hatte er das Handy eingeschaltet, klingelte es, und ein ziemlich aufgeregter Blasius Botsch meldete sich: Der Burgdirektor war bereits um halb acht auf Runkelstein eingetroffen und hatte sich gleich in den »Saal der Liebespaare« begeben, um dort alles für die »gelehrte Delegation«, so der
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