Burgfrieden
hatte.
Bei Tina Ebner und Lukas Gruber hatte sie nichts Außergewöhnliches entdeckt. Nun stand sie im Zimmer von Xenia Schmied-Schmiedhausen. Das erste, was ihr dort auffiel, waren die Bücherstapel, die überall herumstanden. Wie hatte sie die bloß alle hergeschafft? So groß war ihr Xenias Koffer während der Zugfahrt gar nicht vorgekommen. Die Erklärung fand sie, als sie den Schrank öffnete. Lediglich eine zwar zweckmäßige, aber wenig kleidsame Schlabberhose und ein paar bunte, für Xenias Stil typische Flatterschals hingen darin. Auf dem Kastenboden lagen achtlos hingeworfen ein paar gebatikte T-Shirts und eine Strickjacke. Auch in der Kommode herrschte bis auf ein wenig Unterwäsche gähnende Leere. Auf eine umfangreiche Garderobe schien die Dozentin jedenfalls keinen Wert zu legen, auf ausreichend Lektüre dafür umso mehr. Wenn hier etwas versteckt war, dann konnte es sich nur zwischen einem der Buchdeckel befinden.
Jenny nahm sich den ersten Stapel vor, ergriff Buchrücken um Buchrücken und drehte jedes Exemplar so nach unten, dass, sollte sich etwas zwischen den Seiten befinden, dieses unweigerlich zu Boden gleiten musste. Wobei sie nicht nur die Hardcover-Bände diesem Verfahren unterzog, sondern auch die kleineren Taschenbücher. Schließlich war es durchaus denkbar, dass Xenia, sollte sie die Schuldige sein, die einzelnen Blätter der Handschrift zusammengefaltet und auf mehrere Bücher verteilt hatte.
»Was gar kein so schlechtes Versteck wäre«, überlegte Jenny. Doch außer ein paar Zetteln mit Notizen, die ihr entgegenfielen, entdeckte sie nichts. Auch die Buchtitel enthielten keine Hinweise. In der Hauptsache bestand die Sammlung aus Textausgaben mit Liedern Walthers und anderer mittelalterlicher Dichter, durchmischt mit Werken über feministische Theorien.
Richtig, die ehemalige Kollegin hatte sich ja schon zu Studienzeiten ganz dem Thema der weiblichen Betrachtung der Wissenschaft verschrieben, wie Jenny sich jetzt erinnerte. Sie selbst hatte sich über diesen Ansatz eher lustig gemacht und ihn unter der Bezeichnung die Was-wäre-wenn-Forschung abgetan. Aber Xenia hatte ihr Ziel hartnäckig verfolgt und schließlich in ihrer Habilitationsschrift nachzuweisen versucht, dass es in den Liedern der Minnesänger nicht um die Liebe, schon gar nicht um die körperliche zwischen Mann und Frau ginge, sondern um die Huldigung des Hofes und des jeweiligen Herrschers. Ziel der Minnelieder war es daher, so die Schlussfolgerung Schmied-Schmiedhausens, nicht die Damen zu besingen, sondern die Macht der Männer zu stärken und die Frauen zu unterdrücken. Jenny hatte das zwar nie glauben wollen, aber Xenia war es gelungen, sich mit ihrer These zu profilieren und sich als streitbare, ganz dem Feminismus verschworene Wissenschaftlerin einen Namen zu machen.
Diese Überlegungen brachten Jenny bei ihrer Suche allerdings keinen Schritt weiter. Nicht, dass sie erwartet hatte, in einem der Zimmer ein Bändchen mit dem verräterischen Titel »Schlösser knacken leicht gemacht« oder ähnliches zu finden. Aber ein wenig enttäuscht war sie trotzdem. Das war nun bereits das dritte Zimmer, das sie mit leeren Händen verließ. Zwar wäre es ganz im Sinne Arthurs, wenn sie nichts fand, da dies zumindest als ein Indiz für die Unschuld seiner Truppe gewertet werden konnte. Jenny wäre es allerdings genauso lieb gewesen, wenn sie die Handschrift entdeckt und damit der Suche und den wechselseitigen Verdächtigungen ein Ende bereitet hätte.
Resigniert machte sie sich über den letzten Stapel her. Auch da die üblichen Titel und Notizzettel. Einen hob Jenny gerade auf, um ihn wieder – wie sie hoffte – an der richtigen Stelle zu deponieren, als sie bemerkte, dass es sich dabei um einen Kassenbeleg handelte. »Athesia Buch GmbH, Lauben, 41 – 39100 Bozen« las sie. Die Rechnung trug das Datum von gestern. Dann war es also doch Xenia gewesen, die sie zuerst unter den Lauben und dann in der Silbergasse gesehen hatte.
Wieder stellte sich Jenny die Frage, wie die Dozentin zwei Gassen weitergekommen war, ohne dass sich ihrer beider Wege zwischendurch gekreuzt hatten. Hatte sie sich etwa über die Dächer gebeamt? Jenny schmunzelte bei der Vorstellung an eine mit wehenden Haaren und flatterndem Schal durch die Luft fliegende Xenia, als sie sich plötzlich an eine architektonische Besonderheit der Bauweise in diesem Teil der Altstadt erinnerte, die ihr einmal eine Fremdenführerin gezeigt hatte: Aus licht- und
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