Burgfrieden
sich gezwungen, die Questura in Bozen zu verständigen. Im Prinzip war es klar, dass man die Sache bald der Polizei übergeben musste, man konnte ja nicht ewig warten. Aber vorher wollte er Jenny finden. Das war jetzt wichtiger. Klirrend ließ Lenz den Löffel auf seinen Unterteller fallen. Mit einem »Tschuldigung, ist mir nicht gut« erhob er sich, hielt sich eine Hand auf den Bauch und verließ schnurstracks den Raum.
Vom Speisezimmer aus begab Lenz sich zunächst ins Badezimmer. Es war zwar unwahrscheinlich, dass ihm jemand folgte, aber sicher war sicher. Arthur, der eingeweiht war, würde jeden, der Anstalten machte, die Tafel zu verlassen, umgehend in ein Gespräch verwickeln. Zudem würde die Hauptspeise, die Maria jetzt auftrug, alle eine Weile beschäftigen. Nach wenigen Minuten verließ Lenz die Toilette wieder und ging über die Sala terrena in den Garten. Prüfend sah er sich dort noch einmal um. Jenny musste hier irgendwo sein. Seit heute Nachmittag war sie nicht wieder aufgetaucht. Mit Marias Hilfe hatte er in ihrem Zimmer nachgesehen. Doch auch dort war sie nicht.
Lenz rief sich noch einmal seinen Besuch bei Mordred in Erinnerung. Der aktivierte Bildschirm war ein eindeutiges Indiz dafür, dass kurz vorher jemand da gewesen sein musste. Bei diesem Jemand konnte es sich nur um Jenny handeln. War sie am Ende doch auf den Balkon geflüchtet, wo Mordred sie entdeckt und ihr etwas angetan hatte? Gab es da vielleicht irgendwelche Spuren? Sollte er im Gras unter Mordreds Balkon nachsehen? Es war gut möglich, dass er dort einen Hinweis fand. Er konnte sich zwar nicht vorstellen, dass sie freiwillig drei Meter hinuntergesprungen war und sich unverletzt davongemacht hatte. Es fiel ihm aber auch keine andere Möglichkeit ein. Er sollte sich jedenfalls beeilen, solange alle noch beim Essen saßen.
Es war nicht mehr als eine vage Ahnung, die Lenz in jenen Teil des Gartens führte, in dem die Rotbuche stand. Kaum hatte er diese Richtung eingeschlagen, hörte er auch schon halblaut seinen Namen rufen. Wenn er sich nicht täuschte, kam die Stimme, die er gerade vernahm, aus dem Baum. Lenz ging näher heran und suchte mit den Augen den Stamm ab, konnte aber niemanden entdecken.
»Lenz, hier bin ich.« Das war eindeutig Jenny. Im nächsten Moment sah er sie auch schon. Bäuchlings hing sie über einem dicken Ast. Kopf, Oberkörper und Beine zeigten jeweils nach unten, einzig der Popo ragte nach oben. Trotz ihrer misslichen Lage ruderte sie wie wild mit den Armen, wobei nicht eindeutig zu erkennen war, ob sie ihn damit zu sich winken wollte oder das Gleichgewicht zu halten versuchte.
Freude darüber, dass er sie gefunden hatte, war das erste, was Lenz empfand. Im nächsten Moment musste er aber ähnlich wie im Speisezimmer noch einmal an sich halten. Es waren jedoch nicht seine Eingeweide, die ihm zu schaffen machten, vielmehr galt es, einen Lachkrampf zu unterdrücken. Es sah zu komisch aus, wie sie da zappelte. Im nächsten Moment hatte er sich gefasst. Er musste sich jetzt zusammenreißen. Lange könnte sie sich nicht mehr da oben halten, immerhin waren es gute zweieinhalb Meter bis nach unten. Er sollte wohl eine Leiter besorgen. Aber wo die herbekommen? Aus dem Schuppen vielleicht, der war aber auf der anderen Seite. Nein, das dauerte zu lange. Lenz fasste einen Entschluss.
*
»Rutsch einfach ein bisschen nach rückwärts. Lass dich dann langsam mit den Füßen voraus fallen. Fang’ ich dich schon auf.« Skeptisch sah Jenny auf den direkt unter ihr stehenden Assistenten. Das durfte doch nicht wahr sein. Zuerst hatte er sich vor Lachen gekrümmt. Er brauchte sich bloß nicht einzubilden, sie hätte es nicht bemerkt. Und nun auch noch diese absurde Idee. Jetzt würde sie sich tatsächlich sämtliche Knochen brechen, davon war sie überzeugt.
Im nächsten Moment besann sie sich eines Besseren. Von ihrer erhöhten Position aus konnte sie hinter der Glasfront, die die Veranda vom Haus trennte, einen Schatten erkennen. Jemand war in der Sala terrena und konnte jeden Moment herauskommen. Es war keine Zeit mehr zu verlieren. Jenny spannte die Pomuskeln an und bewegte ihr Hinterteil solange hin und her, bis sie ihr Gewicht achtern verlagert hatte. Den Rest erledigten die Schwerkraft und Lenz, der, kaum waren ihre Unterschenkel in seine Reichweite gekommen, diese umfing und so festhielt, dass Jenny in seinen Armen verhältnismäßig sanft zu Boden glitt.
Wieder auf der Erde angekommen, spürte sie
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