Burgfrieden
vor wunderte sie sich, dass ihr dieses waghalsige Manöver geglückt war. Wenn es schiefgegangen wäre, läge sie jetzt mit gebrochenen Knochen im Krankenwagen.
Jenny betrachtete das dichte Blätterwerk der Baumkrone, die sich über ihr wölbte. Solange sie hier zusammengekauert blieb, würde keiner sie entdecken. Die Rotbuche, die sich vor Mordreds Zimmer befand, war ihre Rettung in letzter Sekunde gewesen. Als sie hörte, wie der Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde, war sie, ohne noch einmal nachzudenken, auf das Geländer geklettert, hatte sich abgleiten lassen und war rittlings auf dem nächstgelegenen Ast gelandet. Von da war sie auf ihrem Hosenboden zur Mitte des Stammes gerutscht und hatte dort in einer Art Hohlraum einigermaßen geschützt, wenn auch sehr beengt Platz gefunden.
Nachdem die erste Erleichterung über die gelungene Flucht verklungen war, wurde Jenny sich allerdings ihrer misslichen Lage erst richtig bewusst. Denn solange es noch hell war, konnte sie es nicht wagen, ihre Deckung zu verlassen. Es sei denn, sie wollte riskieren, von Mordred gesehen zu werden. Das Wenigste, dem sie ausgesetzt sein würde, wäre sein beißender Spott. Allerdings stand zu befürchten, dass sie nicht so glimpflich davonkäme. Ob er schon bemerkt hatte, dass auf seinem Schreibtisch etwas fehlte? Erst jetzt fiel Jenny der Papierfetzen ein, den sie in letzter Sekunde an sich gerafft hatte. Er musste sich noch in ihrer Hosentasche befinden. Wenn sie hier nur ein bisschen mehr Bewegungsfreiheit hätte. Autsch, jetzt hatte sie sich beim Versuch, das Blatt herauszuziehen, auch noch den Fingernagel abgebrochen. Jenny mahnte sich zur Geduld. Sie musste vorsichtig sein, damit sie das Papier nicht zerriss. Sie hatte ja ohnehin noch jede Menge Zeit. Bis zum Abendessen, das Maria für sieben Uhr vorbereitete, würde sie auf jeden Fall warten müssen. Dann wäre es zwar immer noch nicht dunkel, aber die Gefahr, entdeckt zu werden, wesentlich geringer. Wenn sie bloß Lenz anrufen und ihm Bescheid sagen könnte. Aber ihr Handy hatte ja keinen Strom mehr. Jenny richtete sich auf zwei lange, ungemütliche Stunden ein. Vorsichtig steckte sie noch einmal die Finger in ihre Hosentasche und beförderte das darin befindliche Beutestück Millimeter für Millimeter ans Tageslicht.
*
Im Speisezimmer der Villa Wasserschloss tunkten sechs Personen ihre Löffel in die Speckknödelsuppe. Trotz der hochsommerlichen Temperaturen hatte sich Maria Kofler für deftige Südtiroler Hausmannskost entschieden. Es war zwar kaum anzunehmen, dass sie Oscar Wildes Aphorismus, demzufolge man nach einem guten Essen allen vergeben konnte, sogar den eigenen Verwandten, kannte. Dennoch hatte die Haushälterin mit feinem, in vielen Jahren im Dienste von Lenz` Onkel bei der Bewirtung großer Gesellschaften geschultem Gespür erkannt, dass die Stimmung in der Gruppe alles andere als zum Besten stand. Heute Abend war sie fest dazu entschlossen, dem Tief mit ihren Kochkünsten zu Leibe zu rücken.
Bei einem schien ihr Rezept aber gar nicht anzuschlagen. Normalerweise mit einem gesunden Appetit gesegnet stocherte Lenz Hofer heute lustlos in der heißen Brühe herum. Nur selten führte er einen Bissen zum Mund und kaute darauf herum, bevor er ihn wie unter Zwang hinunterwürgte. Maria bedauerte den jungen Mann, den sie schon von Kindesbeinen an kannte und ins Herz geschlossen hatte. Er musste etwas ausbrüten, eine andere Erklärung gab es nicht für sein merkwürdiges Verhalten.
Arthurs Assistent hätte indes größte Lust gehabt, sich die Knödelsuppe und die leckeren Speisen, die folgen würden, so richtig schmecken zu lassen. Als nächstes war ein »Herrengröstl«, eine Spezialität aus Kalbfleisch, Schweineschmalz, Kartoffeln und allerlei Gewürzen, vorgesehen. Schon wenn er daran dachte, lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Zu gerne hätte er sich die Hauptspeise noch munden lassen. Doch er würde auf sie ebenso verzichten müssen wie auf die »Schwarzplentene«, die Buchweizentorte, die das Menü abrunden sollte und die sicher noch besser schmeckte als die gestern auf der Burg. Daran durfte er jetzt nicht denken. Jenny war nämlich immer noch nicht aufgetaucht. Er hatte Arthur gleich nach dessen Rückkehr von deren Verschwinden erzählt. Der war gar nicht gut drauf gewesen. Bei der Suche hatten sie keinen Erfolg gehabt, und der Burgdirektor setzte ihnen nun das Messer an die Brust: Wenn sich die Handschrift nicht bis morgen wieder einfinde, sehe er
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