Burgfrieden
im Staub sich wälzen,
Halte stattdessen Einkehr bei Johannes.
Erschaure nicht vor dem Blut des Bartholomä,
Fliehe auch nicht nach Ägypten,
Sondern verneige dich vor dem Mann ohne Gesicht.«
Der Sechszeiler war in unbeholfen wirkenden Druckbuchstaben per Hand auf einen Stadtplan von Bozen geschrieben worden. Dieser zeigte das historische Zentrum, in dem die wichtigsten Sehenswürdigkeiten durch eine 3D-Visualisierung hervorgehoben wurden. Dort, wo sich die Dominikanerkirche, eines der ältesten gotischen Bauwerke Südtirols, befand, hatte jemand ebenfalls von Hand ein Kreuz gemalt.
Diese Karte hielt Jenny jetzt in der Hand, während sie die Wand des linken Kirchenschiffes absuchte. Nachdem es ihr in ihrer Mulde endlich gelungen war, das Papier, das sie aus Mordreds Zimmer entwendet hatte, aus der Hosentasche zu ziehen, war sie zunächst enttäuscht gewesen: Ein Stadtplan, wie man ihn in jeder Touristeninformation bekam. Und dafür hatte sie Kopf und Kragen riskiert. Bei genauerer Betrachtung sah sie sich dann allerdings bald eines Besseren belehrt: Auf der Karte befanden sich ein paar Zeilen, die offensichtlich jemand drauf geschrieben hatte. Diese ergaben für sich allein genommen zwar keinen Sinn. Als sie dann aber die Markierung über der Dominikanerkirche entdeckte, war klar, dass es sich um eine, wenn auch verschlüsselte, Botschaft handelte. Je länger sie darüber nachdachte, desto sicherer gelangte sie zu der Überzeugung, dass es sich bei dem »Rätsel«, wie sie es mittlerweile nannte, nur um eines handeln konnte: den ersehnten Hinweis, der sie zum Versteck der Handschrift führen würde.
Als sie gestern Abend den Plan samt ihrer dazugehörigen Theorie Arthur präsentierte, war dieser allerdings zunächst skeptisch gewesen. Vorausgesetzt, dass Mordred mit der Tat überhaupt etwas zu tun habe, sei es zwar denkbar, dass er die Handschrift vorübergehend an einem sicheren Ort versteckt habe. Warum er allerdings den Standort auf einer Karte einzeichnen und diese mit einem Rätselvers versehen in seinem Zimmer herumliegen lassen sollte, sei nicht nachvollziehbar.
»Hat er vielleicht einen Komplizen gehabt. Hat einer die Handschrift genommen und sie versteckt, der andere sollte sie holen, wenn die Luft wieder rein ist. Dazu braucht er den Plan.« Lenz war wieder neben sie getreten und hatte ihr Schützenhilfe geleistet. Arthur sah immer noch nicht so aus, als sei er überzeugt. In dem Augenblick tauchte eine Gestalt aus der Dunkelheit, die mittlerweile über sie hereingebrochen war und nur spärlich von ein paar Laternen im Garten erhellt wurde.
»Ein Privatissimum zu so später Stunde. Darf man fragen, was der Grund für die exklusive Zusammenkunft ist.« Mordred hatte sich breitbeinig vor sie hingestellt und sah sie herausfordernd an. Seine Blicke wanderten von einem zum anderen, bis sie schließlich an der Karte hängenblieben, die Jenny immer noch in Händen hielt. Sie vermeinte, ein kurzes Aufflackern in seinen Augen zu erkennen, doch im Sekundenbruchteil war dieses unter den halbgeschlossenen Liedern schon wieder erloschen. In dem Augenblick trat Arthur auf sie zu, nahm ihr das verräterische Papier aus der Hand und hielt es Mordred hin.
»Ich« – auf das Ich legte er eine besondere Betonung – »habe diese Karte in deinem Zimmer gefunden. Dafür gibt es sicherlich eine Erklärung, und die will ich jetzt von dir hören.« Es war das erste Mal, dass sie den Professor in einem solchen Ton mit seinem Neffen sprechen hörte. Selbst nach dessen Auftritt auf der Burg hatte Arthur keine solche Schärfe in seine Worte gelegt wie jetzt. Doch diesmal schien Mordred sich in keinster Weise von der Autorität seines Onkels und Lehrers beeindrucken zu lassen. Scheinbar interessiert beugte er sich über das Papier, dann hob er den Kopf und verzog spöttisch die Mundwinkel.
»Ein Stadtplan von Bozen? Habt ihr nichts Besseres auf Lager.« Noch einmal ließ er seinen Blick von einem zum andern gleiten und haftete ihn schließlich an Jenny fest. »Ich« – auch er betonte das Ich – »habe diese Karte noch nie gesehen.« Mit einem verächtlichen Grinsen wandte er sich ab und schlenderte davon.
Wie versteinert hatte Arthur dagestanden und seinem Neffen nachgesehen, bevor er zu sprechen anfing.
»Jenny, Lenz, ich muss euch noch einmal um einen Gefallen bitten. Begebt euch morgen in die Dominikanerkirche und seht nach, was es mit dem Rätsel« – auch er verwendete jetzt den Ausdruck – »auf sich
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