Burgfrieden
plötzlich, wie ihre Knie weich wurden. Die ganze Anspannung der letzten Stunden wich einer grenzenlosen Erleichterung darüber, dass sie mit heiler Haut davongekommen war. Ihr Gesicht eng an sein T-Shirt gedrückt, blieb sie einfach stehen. Auch er schien es nicht eilig zu haben, sie wieder loszulassen. Als sie spürte, wie er ihr zunächst zaghaft und dann immer bestimmter über den Rücken strich, blickte sie zu ihm auf. Sein Gesicht näherte sich dem ihren.
*
Vor der Sala terrena sah Arthur Kammelbach in den Abendhimmel und atmete tief durch. Er hatte die drückende Luft im Speisezimmer nicht mehr ertragen. Marias schwere Kost, so gut sie auch gemeint war, hatte ihr Übriges dazu getan, dass er sich immer beengter fühlte. Beinahe wäre ihm wieder schwindelig geworden. Doch bevor er es soweit kommen ließ, hatte er mit dem Hinweis, dass er auf die Nachspeise verzichte, die Tafel verlassen. Sollten sie sich doch alleine weiterzanken, ob nun Herren-, Damen- oder gar Personengröstl die politisch korrekte Bezeichnung für das bodenständige Südtiroler Gericht wäre. Xenia würde mit ihren kämpferischen Thesen sicherlich Öl ins Feuer gießen und dafür sorgen, dass die Diskussion eine Weile in Gang blieb.
Mit leicht schlurfenden Schritten ging er in den Garten. Vielleicht fand er irgendwo eine Bank, auf die er sich setzen und in Ruhe nachdenken konnte. Blasius hatte ihm heute – zwar verblümt wie immer, aber dennoch unmissverständlich – ein Ultimatum gestellt: Sollte die Handschrift nicht bis morgen wieder auftauchen, werde er die Polizei einschalten.
Der Professor war sich im Klaren darüber, dass diese Maßnahme nicht nur für ihn und seine Leute, sondern auch für den Burgdirektor erhebliche Unannehmlichkeiten, ja vermutlich sogar eine Suspendierung oder Schlimmeres nach sich ziehen würde. Schließlich hatte er ja, um die Bürokratie zu umgehen, das Assessorat in Bozen bisher ganz bewusst nicht über den Fund verständigt. Wenn die Sache ans Licht kam, würde dies unweigerlich Konsequenzen nach sich ziehen.
Nachdenklich das Kinn in die Hand gestützt, setzte Arthur seinen Spaziergang fort. Sitzgelegenheit hatte er zwar noch immer keine gefunden, aber die Bewegung tat ihm gut. Was für ein herrlicher Garten. Ein äußerst gepflegter Rasen und Blumenrabatten wechselten sich mit Bäumen, Sträuchern und Lauben ab. Diese Mischung verlieh dem gesamten Ensemble einen Hauch wilder Romantik, die sich in der efeuumrankten, einem Schlösschen ähnlichen Villa mit ihren Zinnen und Türmchen widerspiegelte.
Doch was wie zufällig wirkte, verriet bei näherer Betrachtung die planende Hand von Lenz’ Onkel, dem Architekten. Dessen war Arthur sich bewusst. Ebenso im Klaren war er sich darüber, dass er diese noble und so komfortabel gelegene Unterkunft seinem Assistenten zu verdanken hatte. Der war auch der Einzige, der ihn auf dieser Reise noch nicht enttäuscht hatte. Abgesehen von Jenny natürlich. Obwohl sie die Angelegenheit als außerhalb des Universitätsbetriebs Stehende am wenigsten anging, hatte sie sich bisher sehr kooperativ gezeigt. Er konnte nur hoffen, dass Lenz sie inzwischen gefunden hatte und sie wohlauf war. Ein weiteres Unglück, diesmal nicht nur einen Gegenstand, sondern einen Menschen betreffend, könnte er nach allem, was geschehen war, nicht verkraften. Sollte ihr etwas zugestoßen sein, würde er sich das nie verzeihen können.
Zum wiederholten Mal warf er sich vor, sie überhaupt in die Sache hineingezogen zu haben, als er plötzlich ihrer ansichtig wurde. Die kleine, zierliche Gestalt mit dem kurzen dunklen Haarschopf konnte nur Jenny sein. Erleichtert trat er näher, als er bemerkte, dass sie nicht alleine war. Dicht bei ihr stand sein Assistent und hielt sie eng umschlungen.
Arthur hätte zwar zu gerne gewusst, wie Lenz sie gefunden und ob die Durchsuchung der Zimmer etwas ergeben hatte. Doch die beiden in diesem offensichtlich intimen Moment zu stören, brachte er nicht übers Herz. Gerade, als er sich so leise wie möglich zurückziehen wollte, fuhren die zwei auseinander. Lenz sah verlegen zu Boden, hielt aber immer noch einen Arm fest um Jennys Schultern gelegt.
Sachte, aber entschieden löste diese sich von Lenz und wandte sich dem Professor zu.
»Gut, dass du da bist. Ich weiß jetzt, wo die Handschrift ist.« Mit diesen Worten zog sie ein zusammengefaltetes Papier aus ihrer Hosentasche.
Sechs
»Folge dem Pfeil im ersten Teil,
Lass den Drachen speiend
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