Burgfrieden
besaß, wer weiß. Mir wurde sie jedenfalls zum Schicksal.«
In dem Augenblick hatte Arthur Jenny sehr leid getan. Es hatte schon immer Professoren gegeben, die nichts dabei fanden, sich an Studentinnen heranzumachen. Auch die waren ja keine Unschuldslämmer, oft genug trieben beinhartes Kalkül und die Hoffnung auf bessere Zensuren sie an. Aber soweit sie es mitbekommen hatte, war Arthur in dieser Hinsicht nie etwas vorzuwerfen gewesen. Dass es ausgerechnet ihn so beinhart erwischen musste, war nicht gerecht. Also würde sie Arthur dabei helfen, seinen Neffen – aus Gründen der Diskretion würde sie der Einfachheit halber bei dieser Bezeichnung bleiben – zu entlasten oder aber, wenn es sein musste, diesen seiner gerechten Strafe zuführen.
»Wenn Lenz dabei ist, bin ich auch dabei.« Wie um ihre Worte zu bekräftigen, ergriff Jenny Arthurs Hand. »Gehen wir morgen also in die Kirche.« Lenz hatte zum Zeichen seiner Zustimmung seine Hand auf ihre beiden gelegt, damit war die Sache besiegelt.
Nun befanden sie und Lenz sich schon gute zehn Minuten in der Dominikanerkirche, ohne dass Jenny bisher eine Malerei oder einen Gegenstand entdeckt hätte, der dem der ersten Zeile des Verses auch nur annähernd ähnlich sah. Langsam wurde sie nervös. Bald würden die ersten Touristen kommen, dann würde ihr Vorhaben sich erheblich schwieriger gestalten. In dem Moment hallte Lenz’ Stimme, der auf der anderen Seite gesucht hatte, zu ihr herüber.
»Glaub ich, hab’ ich den Pfeil gefunden.« So rasch es ihr an diesem geweihten Ort angemessen erschien, durchquerte sie das Kirchenschiff.
*
Das Paar, das im Westschiff der Bozner Dominikanerkirche interessiert die Mauerwand betrachtete, hätte gut und gerne als Touristen durchgehen können. Ein großer Mann mit kurzen, dunklen Haaren und seine wesentlich kleinere Begleiterin waren offenbar gekommen, um die Fresken, für die das Gotteshaus berühmt war, eingehend zu studieren. Verwunderlich war nur, dass sie sich so eingehend mit den schlecht erhaltenen Wandmalereien im ersten Teil der Kirche beschäftigten. Normalerweise ließen Besucher diese nämlich links liegen und beeilten sich, in den vorderen Bereich, den so genannten Lettner, und von dort in die Johanneskapelle zu gelangen, wo sich die wahren Kunstwerke befanden.
Jenny und Lenz konnten sich jedoch von den blassen und nur bruchstückhaft erkennbaren Darstellungen gar nicht losreißen. Ein etwa 20 Zentimeter langer roter Balken, der sich nach vorne hin zunächst etwas rundete und dann spitz zulief, schien es ihnen ganz besonders angetan zu haben.
»Wenn du mich fragst, dann handelt es sich um das restliche Stückchen von einem Kreuz, das irgendwann hier an die Wand gemalt worden ist.« Jenny stellte sich auf die Zehenspitzen, um das Gebilde besser in Augenschein nehmen zu können.
»Musst du ein Stück weiter weggehen, dann sieht es aus wie ein Pfeil.« Lenz berührte ihren Arm und wies zum Eingang.
Jenny bewegte sich ein paar Schritte rückwärts. Er hatte recht: Je weiter sie sich entfernte, desto klarer konnte sie erkennen, was Lenz gemeint hatte. Aus ihrer nunmehrigen Perspektive ähnelte der Balkenteil einer Art Verkehrsschild, das ihnen den Weg wies.
Jenny war wieder zu Lenz getreten.
»Gut, gehen wir davon aus, dass das der Pfeil ist, dem wir folgen sollen. Was steht im nächsten Vers?« Lenz, der die Karte an sich genommen hatte, las vor:
»Lass den Drachen speiend im Staub sich wälzen, halte stattdessen Einkehr bei Johannes.«
Indem sie sich ein wenig vorbeugte, überflog Jenny die Zeilen. »Das sind zwei Verse. Mit ›Einkehr bei Johannes‹ ist sicher die Johanneskapelle gemeint. Die muss hier irgendwo sein.« Der Blick, mit dem sie Lenz jetzt bedachte, signalisierte ihm: Lass uns dort hingehen und keine Zeit mehr verlieren.
Den gesamten Raum absuchend sah Lenz sich um: Wo befand sich die Kapelle? Er hatte die riesige zweiteilige Kirche das letzte Mal während seiner Schulzeit besucht. Irgendwo hatte eine recht unscheinbare Tür zur Kapelle geführt. Die galt es jetzt zu finden, was sich als gar nicht so einfach herausstellte.
Plötzlich blieben seine Augen an einem der Wandgemälde hängen. Wie hatte die zweite Zeile gelautet? Lenz sah noch einmal in das Papier. »Lass den Drachen speiend im Staub sich wälzen«. Das war’s. Überlebensgroß sah er jetzt den Heiligen Georg vor sich, wie er hoch zu Ross sitzend die Lanze in’s Maul des sich am Boden windenden Drachen stieß. Ob
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