Burgfrieden
Erst nachdem sie in die verkehrsreiche Hauptstraße eingebogen war, wagte sie es, ihr Tempo zu drosseln und sich umzudrehen.
Der Bauarbeiter war ihr nicht gefolgt. Offenbar hatte er die Sinnlosigkeit seines Unterfangens eingesehen und sich stattdessen lieber aus dem Staub gemacht.
Um sicherzugehen, dass die Gefahr gebannt war, würde sie noch ein, zwei Kilometer weiterradeln und dann Lenz anrufen. Jetzt erst wurde ihr bewusst, dass der sich noch nicht gemeldet hatte, was er eigentlich längst hätte tun können. Sie begann sich ohnehin zu fragen, was ihn so lange aufhielt. Steckten die drei Studenten am Ende doch unter einer Decke?
Speranza jedenfalls hatte etwas auf dem Kerbholz, das war eindeutig. Wenn sie auch nicht mehr so überzeugt war, dass es etwas mit der Handschrift zu tun hatte. Aber ein Schurke war er, so viel stand fest. Niemand schleppte Lebensmittel in dieser Menge aus einem Restaurant, nur um seine Lieben zu verköstigen. Da steckte mehr dahinter, so viel stand fest.
Ohne es zu bemerken, war Jenny wieder bei jener Kreuzung am Ortseingang angelangt, an der ihnen die Studenten entgegenkommen waren. Jetzt erkannte sie die Stelle wieder. Etwas weiter Richtung Zentrum lag das Hotel Oberrauch, das sie observiert hatte. Auf der Jagd und anschließenden Flucht musste sie sich im Kreis bewegt haben.
Lenz war in die entgegengesetzte Richtung davon geradelt, daran erinnerte sie sich. Ob sie ihm einfach nachfahren sollte? Sie war sich sicher, dass er noch nicht zum Ausgangspunkt zurückgekommen war, sonst hätte er sich schon gemeldet. Ewig konnte er aber auch nicht hinter den Studenten herfahren. Wenn er sich auf dem Rückweg befand, dann würde sie ihn ja treffen, wenn sie ihm entgegenfuhr. Und wenn nicht, dann konnte sie es immer noch am Handy probieren. Die Begegnung mit Speranza saß ihr noch in den Knochen. Bewegung war jetzt genau das Richtige.
*
Von der Deutschordens-Kommende, bei der Lenz den Studenten begegnet war, führt der Weg zur Pfarrkirche Maria Himmelfahrt. Bereits im 11. Jahrhundert stand an der dortigen Passhöhe die Kapelle des Heiligen Ulrich. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts wurde dann mit dem Kirchenbau begonnen, dessen bis heute erhaltener romanischer Turm noch immer an die Entstehungszeit erinnert.
Ebenso, wie sich wohl einst Pilger und Handelsreisende nach ihrem beschwerlichen und gefahrvollen Anstieg getröstet fühlten, kaum dass sie des Kirchleins gewahr wurden, erging es jetzt Jenny. Zwar nicht eben religiös, fühlte sie sich beim Anblick des Gotteshauses mit einem Mal geborgener und sicherer, als es seit ihrer Ankunft am Hochplateau des Ritten bisher der Fall gewesen war. Erschöpft wie sie war, beschloss sie, die Dorfkirche für eine Einkehr zu nutzen. Die Stille würde ihr gut tun, und eine kurze Rast auf einer der Bänke war auch nicht zu verachten. Sie würde sich ein wenig ausruhen und dann Lenz anrufen.
Als sie auf dem Kirchplatz anhielt und nach einer Möglichkeit suchte, ihr Rad sicher abzustellen, fiel ihr Blick auf ein schmiedeeisernes Gatter, das sich in der Nähe befand. Sie würde ihr Gefährt mit dem Schloss an einem der Gitterstäbe anhängen, was potenziellen Dieben ihr Handwerk erschwerte. Es war zwar nicht wahrscheinlich, dass es hier in dieser abgelegenen Gegend von Kriminellen wimmelte. Der Zusammenstoß mit Speranza hatte ihr allerdings gezeigt, dass sie nicht vorsichtig genug sein konnte. Was, wenn es ihm doch gelungen war, ihr zu folgen? Dann würde er sich, kaum dass sie die Kirche betreten hatte, ihres Rades bemächtigen und sie damit ihres Fluchtfahrzeugs berauben.
Im Näherkommen bemerkte Jenny, dass hinter der Umzäunung ein Friedhof lag. Das allein hätte sie von ihrem Vorhaben nicht abgebracht. Was sie aber stutzig machte, war das Rad, das dort lehnte. Es kam ihr bekannt vor. Ja, sie war sich sogar sicher, dass es sich um das von Lenz handelte, wenn es auch, in schlichtem Schwarz gehalten, keine besonderen Auffälligkeiten aufwies. War das bloß ein Hirngespinst? Sah sie jetzt schon überall Lenz?
Im nächsten Moment wurde ihr klar, dass es sich keineswegs um eine Einbildung handelte. Über die nur etwa hüfthohen Gitterstäbe hinweg hatte sie einen guten Blick auf die Grabreihen. In einer der vorderen sah sie einen Mann, der schweigend dort verharrte. Obwohl er mit dem Rücken zu ihr stand, erkannte sie ihn sofort: Lenz. Daran gab es keinen Zweifel. Er trug dieselbe schwarze Jeans und das weiße T-Shirt von heute Morgen, auch die
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