Burgfrieden
als sie nach dem ersten Teilstück, das sie schiebend und keuchend überwunden hatten, tatsächlich recht flott radeln konnten. Doch schon nach ein paar hundert Metern war ihr die Luft ausgegangen: Sie hatte einen Platten. Seither waren sie, wie schon öfter an diesem Tag, wieder einmal zu Fuß unterwegs.
»Nicht das erste Mal, dass heute etwas schief geht.« Jenny hätte ihren Unmut liebend gern lautstark kundgetan. Die Spannung, die zwischen ihr und Lenz seit der Begegnung auf dem Bergfriedhof herrschte, hielt sie jedoch davor zurück. Dabei bestand kein Zweifel, dass alles seine Schuld war. Wie hätte sie auch ahnen sollen, dass es jemanden gab, den er betrauerte? Zugegeben, so nahe standen sie sich nicht, dass er Veranlassung gehabt hätte, ihr sein Herz auszuschütten. Aber dass er sie am Ritten Speranza geradezu in die Arme getrieben hatte, um sich um eine persönliche Sache zu kümmern, war unentschuldbar. Mochte es auch eine tragische Angelegenheit sein – das Grab und Lenz’ Tränen gaben ja zu einer solchen Vermutung Anlass –, er hätte sie nicht einfach alleine der Gefahr aussetzen dürfen.
Auch seine Reaktion auf ihr unvermutetes Erscheinen hatte sie nicht gerade milde gestimmt. Zunächst war sie zwar betroffen gewesen, ja, hatte sich beinahe schuldig gefühlt. Auch dafür, dass er sich nach ihrem ersten Erklärungsversuch so brüsk abgewendet hatte, konnte sie noch Verständnis aufbringen. Deshalb hatte sie sich auch in den Kreuzgang zurückgezogen und eine Zeit lang gewartet. Bis er dann auf sie zugekommen war.
»Fahren wir zurück.« Das war alles, was er gesagt hatte. Keine Erkundigung danach, wie es ihr mit Speranza ergangen war, auch kein Wort über die Studenten, die er ja hätte verfolgen sollen.
Sie war ihm stumm gefolgt. Gut, würde sie eben den Mund halten, hatte sie trotzig gedacht. Schweigend waren sie zurückgeradelt und wieder in die Seilbahn gestiegen. Die Talfahrt hatte sie noch schlimmer empfunden als die Bergfahrt, hatte keinen Ton von sich gegeben und nur starr geradeaus geschaut, ohne die landschaftlichen Schönheiten wahrzunehmen, die den Fahrgästen ringsum Ausrufe der Bewunderung entlockten. Lenz musste bemerkt haben, wie unwohl sie sich fühlte, machte aber keinerlei Anstalten, sie aufzumuntern.
»Ist dort vorne eine Bank. Du möchtest dich ausruhen?« Aha, er sprach wieder mit ihr. Aber ihr war jetzt nicht danach zumute. Wortlos schüttelte sie daher den Kopf. Ihr Rad schiebend trottete sie weiter hinter Lenz den schmalen Weg entlang. Eines musste sie allerdings zugeben: Der Ausblick von hier war grandios, und im Gegensatz zur Seilbahn schien ihr die Höhe hier nichts auszumachen. Entscheidend war, dass sie auf festem Grund stand, und das war hier definitiv der Fall.
Was die Handschrift betraf, so schien es allerdings tatsächlich so, als hätte man ihnen endgültig den Boden unter den Füßen weggezogen. Nachdem sie mit einiger Verspätung bei Lenz’ Schwester eingetroffen waren und Jenny sich mit einem großen Stück des köstlichen Marillenstrudels gestärkt hatte, war sie zur Sache gekommen. Sie hatte zwar Lenz nichts mehr von ihrer Überlegung erzählt, nach der seine Schwester es wissen müsse, wenn kürzlich jemand in der Kirche gewesen sei. Aber jetzt konnte sie ja Sonja Unterkircher persönlich fragen.
»Wir suchen nach einer Handschrift Walthers von der Vogelweide, die auf der Burg Runkelstein verschwunden ist. Die Spur hat zunächst in die Dominikanerkirche geführt. Dort haben wir dann diese Karte gefunden.« Ohne Umschweife hatte Jenny das Gespräch zwischen Bruder und Schwester unterbrochen und breitete den Plan vor Sonja aus. »Alles weist darauf hin, dass das Manuskript in St. Magdalena in der Kirche versteckt ist. War in den letzten beiden Tagen jemand hier und hat den Schlüssel verlangt?«
Jenny hatte in drängendem, ein wenig strengem Tonfall mit Lenz’ Schwester gesprochen. Die hatte zuerst die Karte betrachtet und war dann in schallendes Lachen ausgebrochen.
»Des isch a Blödsinn. Bei mir woar koaner. Wenn jemand in der Kirch’n g’wesen wär, wüsst’ ich des.« Kopfschüttelnd fügte sie noch hinzu: »Zem hat Euch einer schian pflanzt.«
Was war nun wieder mit »zem« und »schian« gemeint? Egal, Jenny konnte sich nicht mit den Südtiroler Mundartausdrücken, mit denen Sonja ihre Sätze spickte, aufhalten. Den Sinn hatte sie auch so verstanden. Lenz’ Schwester war sich sicher, dass niemand in der Kirche gewesen war, ergo auch
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