Burgfrieden
den Besuchern die Kirchentür aufsperren und danach wieder zuschließen. Letzteres hatte sie sich abgewöhnt. Sie gab den Leuten einfach den Schlüssel, schärfte ihnen ein, abzuschließen und ihn ihr dann wieder zu bringen. Der Sonnenhof, den sie bewirtschaftete, lag ja in der Nähe der Kirche. Da war es wohl nicht zu viel verlangt, wenn sie die paar Schritte gingen.
Ganz vorschriftsmäßig war das zwar nicht. Von Rechts wegen hätte sie niemanden unbeaufsichtigt in die Kirche lassen dürfen. Aber wo käme sie denn da hin, wenn sie jedes Mal mit hineinginge? Schließlich hatte sie noch was anderes zu tun. Die Trauben versorgten sich nicht von selber und die Familie auch nicht. Und die Leute einfach abzuweisen, das brachte sie nicht übers Herz. Wenn jemand ins Gotteshaus hineinwollte, dann würde sie ihn nicht daran hindern. Warten mussten sie halt manchmal, die Gäste, wenn sie im Weinberg war. Sie konnte ja schließlich nicht alles liegen und stehen lassen. Nicht einmal für den Lenz. Das hatte der auch einsehen müssen, als er sie heute angerufen hat. Obwohl sie sich riesig gefreut hat, als sie hörte, dass er in Bozen ist. Mit dem Professor und ein paar anderen Leuten von der Uni, um irgendeine alte Schrift zu studieren. Wohnte beim Onkel, aber zu dem hatte sie keinen Kontakt, daher wusste sie auch von nichts.
Der Bruder hatte ihr auch versprochen, in ein paar Tagen die Eltern zu besuchen. Aber vorläufig durfte sie ihnen noch nichts sagen.
Sie hatte ihm die Bitte nicht abschlagen können. Ebensowenig wie seinen Wunsch, ihm unbedingt noch vor der Führung die Kirche aufzusperren. Ob das auch etwas mit der Schrift zu tun hatte? Sie hatten nicht lange telefonieren können, die Verbindung im Weinberg war meist schlecht.
Die holzgeschnitzte Pendeluhr zeigte Dreivierteldrei. Lenz hätte längst da sein sollen. Eine Kollegin wollte er auch mitbringen, eine Frau Doktor. Half ihm angeblich bei seiner Arbeit. Sonja war sich nicht sicher, ob sie sich auf seine Begleiterin freuen sollte. Die G’studierten passten ihrer Meinung nach gar nicht zu ihm. Das hatte man ja schon bei der Christa gesehen. Ein nettes Madl war die gewesen. Aber kaum von der Akademie zurück, hatte sie auch schon Flausen im Kopf gehabt. Und man sah ja, wozu es geführt hatte. Für ihren Bruder wünschte sie sich eher etwas Bodenständiges. Eine Weinbäuerin, so wie sie selbst, das wäre das Richtige.
Das Schellen der Haustürklingel riss Sonja aus ihren Gedanken. Bevor sie den elektrischen Türöffner betätigte, schob sie die Spitzenstores ein wenig zur Seite und lugte hinaus. Die beiden waren mit dem Fahrrad gekommen. Hätte sie sich ja denken können, der Lenz fuhr ja nicht mehr mit dem Auto seit damals. Sportlich war sie also zumindest, die Kollegin, wenn sie’s hier herauf geschafft hatte. Das war ja schon mal was. Sah auch ganz nett aus, zumindest von hinten. Ah, jetzt drehte sie sich um.
Enttäuscht ließ Sonja die Vorhänge zufallen und drückte auf den Summer. Hätte ihr gar nicht schlecht gefallen, die Frau Doktor. Aber sie war viel älter als Lenz, auf zehn Jahre fehlte da wohl nicht viel. Aus den beiden würde nichts werden.
»Griass enk. Kemmt’s einer. Esst’s einen Kuchen und trinkt’s einen Kaffee.« Sonja hatte sich schon wieder gefasst. Sollte ihr keiner nachsagen, dass sie eine schlechte Gastgeberin wäre.
*
Missmutig schob Jenny Sommer ihr Rad die Oswaldpromenade entlang. Der Höhenweg verband den im Westen gelegenen Ortsteil St. Magdalena mit der weiter östlich befindlichen Bozner Wassermauer, jener Abschnitt der Talferpromenade, in dessen Nähe sich auch die Villa Wasserschloss befand. Spaziergänger schätzten diesen beschaulichen Weg wegen seines fantastischen Ausblicks, den er auf die Altstadt von Bozen gewährte. Um dieses Panorama genießen zu können, musste man allerdings zunächst – egal, von welcher Seite man kam – einen engen, steilen Serpentinenanstieg bewältigen, der schon so manchem Wanderer die Schweißperlen auf die Stirn getrieben hat.
Für Radfahrer war der Weg wegen seiner Beschaffenheit tabu, ja, die einschlägigen Reiseführer warnten sogar ausdrücklich vor diesem Wagnis. Lenz Hofer war allerdings der Meinung gewesen, man könne es dennoch riskieren.
»Ist es nur am Anfang und am Ende steil. Oben geht es eben dahin«, hatte er zu Jenny gesagt. Sie hatte auf ihn gehört, wofür sie sich inzwischen innerlich verfluchte. Ihr Begleiter hatte zwar insofern recht gehabt,
Weitere Kostenlose Bücher