Burgfrieden
leicht gebückte Körperhaltung und das kurze dunkle Haar stimmten überein.
Er war also nicht den Studenten gefolgt. Und wenn doch, dann hatte er die Observierung offensichtlich beendet. Denn so sehr Jenny sich auch anstrengte: Von den dreien sah sie weit und breit keine Spur. Was machte er hier und warum hatte er ihr nicht gesagt, was er vorhatte? In Jennys Kopf überschlugen sich die Gedanken. Sie scheute zwar davor zurück, ihn in seiner augenscheinlichen Andacht zu stören. Andererseits ließ die Tatsache, dass er sie nicht in seine Pläne eingeweiht hatte, nichts Gutes vermuten.
Sie schaute noch einmal zu den Gräbern. Lenz stand noch in derselben Haltung dort und schien sich nicht bewegt zu haben. Jenny war sich nicht im Klaren darüber, ob sie sich ihm nähern und ihn ansprechen oder lieber das Weite suchen sollte. So behutsam wie möglich, um nur ja kein Geräusch zu verursachen, öffnete sie das Gatter gerade weit genug, um durchzuschlüpfen. Vor ihr lag eine gepflasterte Fläche, über die sie in eine Art Kreuzgang gelangte, der zu den Gräbern hin geöffnet war.
Jenny verbarg sich hinter einer der Säulen, von wo aus sie Lenz gut im Blickfeld hatte. Das Grab, vor dem er stand, hob sich durch seine Schlichtheit von den anderen ab. Anstelle kunstvoll verschnörkelter Schmiedearbeiten zierte es nur ein niedriger Stein mit einem schlichten Eisenkreuz. Die rundum üblichen Blumenbeete waren hier durch niedrige Latschensträucher, wie sie im Gebirge wachsen, ersetzt worden. Den einzigen Schmuck bildeten ein paar Tannenzapfen und zwei weiße Kerzen.
Jenny hielt den Atem an. Von ihrer Position aus erkannte sie eine Inschrift, war aber zu weit weg, um diese lesen zu können. Sie wagte es nicht, ihre Deckung zu verlassen. Aber ein kleines Stückchen näher wollte sie sich noch heranwagen. Vorsichtig setzte sie einen Fuß auf den Boden. Unter ihr knirschte laut der Kies auf. Sie hatte übersehen, dass der Steinboden hier in einen Schotterweg überging. Augenblicklich hielt sie in der Bewegung inne und wollte wieder in den Kreuzgang huschen. Doch es war zu spät. Lenz hatte sich bereits zu ihr umgedreht und sah sie ausdruckslos an.
»Ich bin beinahe mit Speranza zusammengestoßen und habe dich gesucht. Ich wusste nicht …« Die Erklärung, die Jenny hervorsprudelte, blieb ihr im Hals stecken. Lenz hatte sich wieder dem Grab zugewendet. Von der Seite her konnte sie sein Gesicht sehen. Über seine Wange liefen Tränen.
*
In der guten Stube ihres Weinbauernhofs in St. Magdalena betrachtete Sonja Unterkircher zufrieden den liebevoll gedeckten Tisch. Lange konnte es nicht mehr dauern, dann würde sie ihren Bruder Lenz wieder sehen. Über zwei Jahre war es jetzt her, dass er Bozen Hals über Kopf verlassen hatte. Weder die Beschwörungsversuche der Eltern noch ihr eigenes gutes Zureden hatten ihn bisher dazu bewegen können, in die Heimatstadt zurückzukehren. Gut, es war ja keine Schande, dass der Professor ihm den Posten als Assistenten hat zukommen lassen, aber auf Dauer war das nichts. Hier sollte er sein, am Gymnasium unterrichten und den Eltern auf dem Hof helfen. Der kleine Bruder, der Nachzügler, war noch zu jung dazu, und sie selbst hatte ja ihre eigene Familie und den Weingarten und noch den Mesnerdienst. Freiwillig machte sie den nicht, der war im Grundbuch so eingetragen. Reihum mussten sich die Bauern um die Kirche kümmern, bis zum Herbst war sie dran. Eine zusätzliche Last war das schon, auch wenn’s dem Herrgott zugutekam. Bei den großen Kirchenfesten war’s ja nicht so schlimm, da half das ganze Dorf mit. Aber das restliche Jahr frische Blumen hinstellen, die Kirche sauber halten und den Opferstock entleeren – da kam schon was zusammen. Am lästigsten war das Auf- und Zusperren. Sie hatte als Einzige den Schlüssel für die Kirchentür, und ohne den kam keiner rein. Außer, wenn eine Messe war. Und einmal in der Woche gab es die Führung. Da hatten sie einen pensionierten Kunsterzieher gefunden, der das freiwillig und vor allem für Gotteslohn machte. Denn von der Pfarrei gab’s dafür kein Geld. Die hätten am liebsten gehabt, dass Sonja und ihr Mann das aus der eigenen Tasche bezahlen würden. So weit kommt’s noch.
Oft riefen die Leute, die außerhalb einer Führung in die Kirche wollten, bei den Unterkirchers an. Sonja hatte in Erfahrung gebracht, dass man in der Tourismusinformation in Bozen den Fremden bereitwillig ihre Handynummer gab. Dann musste sie vom Weinberg herunter,
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