Bushido
gleich verurteilen. Dabei weinte er, zitterte am ganzen Körper und konnte kaum von A nach B laufen. Verdammt, war mir diese Situation unangenehm. Ich wollte so schnell wie möglich wieder weg.
Da saß ich also im Wohnzimmer meines Vaters zusammen mit seiner Ollen. Was für ein Anblick! Sie saß in ihrer Trainingshose auf dem Sofa und bewegte sich keinen Zentimeter zu viel. Wie denn auch, so dick wie sie war! Der Bezug des Sofas war schon richtig durch. Vor ihr auf dem Tisch: Dosenbier, Zigaretten, Kreuzworträtsel und ein Aschenbecher, der vor ausgedrückten Kippen nur so überquoll. Als ich mit D-Bo die Wohnung betrat – ich bin ja nicht dumm, ich habe ein sehr schnelles Auffassungsvermögen –, wusste ich sofort Bescheid, was hier für ein Film lief.
Ich unterhielt mich gerade mit meinem Vater, als die Olle plötzlich einen abdrückte. D-Bo ist mein Zeuge. Zu krass! Dabei blickte sie noch nicht einmal von ihrem verfluchten Kreuzworträtsel auf und entschuldigte sich auch nicht dafür. Ich merkte zwar, dass meinem Vater das peinlich war, aber das war sein Problem. D-Bo hielt sich während der ganzen Zeit eher im Hintergrund. Ihm war das alles verständlicherweise auch ziemlich unangenehm.
Wir saßen uns gegenüber und keiner wusste, was er sagen sollte.
Um diese Stille zu überbrücken, quatschte mein Vater sinnlos drauflos.
»Was machst du so?«, wollte er wissen.
»Nichts.«
»Ich sehe dich immer im Fernsehen.«
»Schön für dich.«
»Deine Cousine hat mir deine Adresse gegeben, damit ich dir die Postkarte schreiben konnte.«
»Hm.«
»Schade, dass wir nicht mehr zusammen wohnen«, meinte er.
Ich schaute ihn nicht an. Ich merkte, wie langsam die Wut in mir aufstieg.
»Ich sag dir ganz ehrlich…«, redete mein Vater weiter.
»Was denn?«, unterbrach ich ihn lautstark.
»Ich verstehe gar nicht, warum deine Mutter mich verlassen hat.«
Stille.
Ich schaute ihn verständnislos an. Dieser Mann meinte das tatsächlich ernst.
»Du weißt nicht, warum meine Mutter dich verlassen hat?«
Die Olle auf dem Sofa gab einen Grunzlaut von sich. Ich schaute zu D-Bo rüber, der nur mit dem Kopf schüttelte.
»Na, also ganz objektiv betrachtet: Wegen deiner Mutter sind wir keine Familie mehr«, sagte er. »Ihretwegen sind wir nicht mehr zu-sammen.«
Eigentlich war jetzt der Zeitpunkt gekommen, um ihn umzuboxen. Dann sah ich ihn an. Ich blickte in sein Gesicht, sah diesen halbtoten Mann und schluckte meine Wut herunter. Er war es nicht wert.
Als ich drei Jahre alt war, habe ich dabei zusehen müssen, wie er meine Mutter mit dem Telefonhörer krankenhausreif geschlagen hat. Im Suff hatte er sie windelweich geprügelt. Sie hatte keine reelle Chance, sich zu wehren. Damals gab es ja noch keine schnurlosen Telefone, sondern diese schweren Apparate mit Wählscheibe. Er hatte das Telefonkabel aus der Wand gerissen, mit dem Hörer auf ihr Gesicht eingedroschen und danach mit voller Wucht das ganze Telefon auf ihren Kopf geschlagen. Ich hatte weinend, total verängstigt und hilflos in der Ecke gesessen und alles mit ansehen müssen. Wie hätte ich meiner Mutter denn helfen sollen? Als sie schließlich blutüberströmt am Boden lag und sich nicht mehr rühren konnte, ließ er sie endlich in Ruhe. Bis zum nächsten Mal, als er wieder besoffen nach Hause kam.
Fast 25 Jahre später sitze ich mit genau diesem Typen in seinem Wohnzimmer und muss mir anhören, dass meine Mutter unsere Familie zerstört hat! Von dem Moment an war er für mich endgültig gestorben.
»Okay, es reicht. Ich gehe jetzt«, sagte ich und stand auf.
»Aber was ist denn mit deiner Familie in Tunesien?«, versuchte er mich vollzutexten, nur damit ich noch ein bisschen länger bei ihm blieb.
»Das interessiert mich nicht mehr«, antwortete ich. »Ich wollte dich einmal sehen. Du wolltest mich einmal sehen. Damit habe ich meine Pflicht erfüllt. Ich hau jetzt ab!«
Ich schaute noch einmal zu der Kuh auf dem Sofa, die immer noch regungslos vor ihrem Kreuzworträtsel saß, und verließ mit D-Bo die Wohnung. Das Treffen dauerte genau eine Stunde.
»Aber wohin gehst du?«, rief mein Vater hinter mir her. »Kommst du morgen wieder?«
Ich drehte mich ein letztes Mal zu ihm um.
»Nein. Nie wieder.«
Ich stieg in meine S-Klasse und war völlig am Ende. D-Bo saß still auf dem Beifahrerplatz und schaute aus dem Fenster. Von all meinen Freunden kennt er mich ja am besten. Deswegen konnte er auch ahnen, was in dem Moment in mir vorging. D-Bo respektierte
Weitere Kostenlose Bücher