Byrne & Balzano 02 - Mefisto
können, und alle Orte, an denen er sie nicht vermutete, ohne sie zu finden. Andererseits konnte er sich auch gar nicht vorstellen, dass sie in einer Kneipe saß, ein Glas nach dem anderen trank und die Zeit vergaß. Außerdem hätte Victoria ihn angerufen, wäre ihr etwas dazwischengekommen.
Die Wohnung sah so aus, wie er sie am Morgen verlassen hatte. Das Frühstücksgeschirr stand in der Spüle, und auf den Bettdecken malten sich die Abdrücke ihrer Körper ab.
Obwohl Byrne sich wie ein Spanner vorkam, betrat er das Schlafzimmer und öffnete die oberste Schublade von Victorias Schrank. Der Blick auf den Inhalt eröffnete ihm eine kurze Rundreise durch ihr Leben: eine kleine Schachtel mit Ohrringen, ein Plastikumschlag mit Ticketabschnitten von Broadway-Aufführungen in Philadelphia, eine Auswahl von Lesebrillen aus dem Drugstore mit unterschiedlichen Gestellen, eine Sammlung von Grußkarten. Byrne nahm eine aus dem Umschlag. Es war eine dieser sentimentalen Geburtstagskarten mit einer glitzernden Ernteszene in herbstlicher Dämmerung. Hatte Victoria im Herbst Geburtstag? Byrne musste feststellen, dass er im Grunde nicht viel über sie wusste. Er klappte die Karte auf und fand einen Text auf der linken Seite, einen langen Text auf Schwedisch. Ein paar Glitzersplitter fielen heraus und rieselten auf den Boden.
Byrne steckte die Karte zurück in den Umschlag und schaute auf den Poststempel. BROOKLYN, NY. Hatte Victoria Verwandte in New York? Byrne fühlte sich wie ein Fremder in ihrer Wohnung. Er hatte mit ihr geschlafen, und jetzt kam er sich wie ein Zuschauer vor.
Er öffnete die Schublade, in der sie ihre Wäsche aufbewahrte. Das Aroma von Lavendelduftkissen stieg ihm in die Nase und löste ein Gefühl von Trauer und Verlangen aus. In der Schublade lagen Mieder, Slips und Strümpfe, für die Victoria mit Sicherheit viel Geld ausgegeben hatte. Byrne wusste, dass sie trotz ihrer burschikosen Art großen Wert auf ihr Äußeres legte. Sie schien keine Kosten zu scheuen, um sich unter der Kleidung schön zu fühlen.
Byrne schloss die Schublade und schämte sich ein wenig. Er wusste wirklich nicht, wonach er suchte. Vielleicht hoffte er, eine andere Seite ihres Lebens zu entdecken, ein Puzzlestück des Rätsels, das ihm auf der Stelle erklärt hätte, warum sie nicht zum Treffen erschienen war. Vielleicht hoffte er auch auf eine Eingebung, eine Vision, die ihm die richtige Richtung weisen würde. Doch nichts dergleichen geschah. Die Falten dieser Stoffe aktivierten seine seherischen Fähigkeiten nicht.
Und selbst wenn er in der Lage gewesen wäre, dieser Wohnung alle Geheimnisse zu entlocken, hätte er noch immer keine Erklärung für das Schneewittchen auf seiner Motorhaube gehabt. Byrne wusste, woher die Figur stammte. Tief im Innern wusste er, was ihr zugestoßen war.
Eine andere Schublade, diesmal mit Socken, Sweatshirts und T-Shirts gefüllt. Keine Hinweise. Er schob sämtliche Schubladen zu und warf kurz einen Blick in ihren Nachtschrank.
Nichts.
Auf Victorias Esszimmertisch hinterließ er eine Nachricht und fuhr dann nach Hause. Er spielte mit dem Gedanken, sie offiziell als vermisst zu melden. Aber was sollte er sagen? Eine Frau Mitte dreißig war nicht zur Verabredung erschienen? In den letzten vier, fünf Stunden hatte niemand sie gesehen?
Als er in Süd-Philadelphia eintraf, fand er eine Straße von seiner Wohnung entfernt einen Parkplatz. Die Strecke erschien ihm endlos. Er blieb stehen und versuchte es noch einmal auf Victorias Handy. Die Mailbox meldete sich. Er hinterließ keine Nachricht. Er quälte sich die Stufen hinauf und spürte jede Minute seines Alters, jede Facette seiner Angst. Er wollte ein paar Stunden schlafen und seine Suche nach Victoria dann fortsetzen.
Um kurz nach zwei fiel er ins Bett. Als er wenige Minuten später einschlief, begannen die Albträume.
32.
Die Frau lag auf dem Bauch. Sie war nackt ans Bett gefesselt, ihre Haut von roten Striemen überzogen, die Peitschenhiebe hinterlassen hatten. Das Licht der Kamera schien auf ihren hübsch geschwungenen Rücken und die schweißnassen Rundungen ihrer Hüften.
Der Mann trat aus dem Badezimmer in den Raum. Er war keine besonders imposante Erscheinung und erinnerte vom Typ her an einen Kinoschurken. Er trug eine Ledermaske. Seine dunklen Augen funkelten bedrohlich hinter den Schlitzen; in den Händen hielt er einen Elektroschocker.
Sexuell sichtlich erregt, trat er bei laufender Kamera langsam vor. Als er vor dem Bett stand,
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