Byrne & Balzano 02 - Mefisto
zögerte er den Bruchteil einer Sekunde.
Dann nahm er sie noch einmal.
33.
Das Passage House in der Lombard Street war ein sicherer Hafen und Unterschlupf. Es bot Jugendlichen, die von zu Hause ausgerissen waren, Rat und Schutz. Seit der Gründung vor fast zehn Jahren waren mehr als sechstausend Mädchen durch diese Tür gegangen.
Die Steinfassade war weiß getüncht, sauber und kürzlich neu gestrichen. Die Fenster waren von innen mit einem Geflecht aus Efeu, blühenden Klematis und anderen Kletterpflanzen überzogen, die sich durch weiße Holzgitter rankten. Byrne nahm an, dass die Grünpflanzen aus zweierlei Gründen die Fenster zierten. Erstens, um den Blick auf die Straße zu versperren, wo Versuchungen und Gefahren lauerten. Zweitens, um den Mädchen, die erwogen, einfach mal vorbeizuschauen, zu zeigen, dass es hier drinnen Leben gab.
Als Byrne auf die Eingangstür zusteuerte, wusste er, dass es ein Fehler sein könnte, sich als Polizist zu erkennen zu geben, denn dies war kein offizieller Besuch. Doch wenn er wie ein Zivilist ins Haus spazierte und Fragen stellte, könnte man ihn für den Vater, den Freund oder den niederträchtigen Onkel eines der Mädchen halten. In einem Haus wie dem Passage House könnte er das Problem sein.
Draußen putzte eine Frau Fenster. Ihr Name war Shakti Reynolds. Victoria hatte oft über sie gesprochen, jedes Mal in den höchsten Tönen. Shakti Reynolds gehörte zu den Gründerinnen des Zentrums. Sie widmete ihr Leben diesem Projekt, nachdem ihre Tochter vor fünfzehn Jahren einer Gewalttat zum Opfer gefallen war. Byrne zeigte ihr seine Dienstmarke und hoffte, dass er diesen Schritt nicht bereuen würde.
»Was kann ich für Sie tun, Detective?«
»Ich suche Victoria Lindstrom.«
»Tut mir leid. Sie ist nicht hier.«
»Haben Sie heute mit ihr gerechnet?«
Shakti nickte. Sie war eine große, breitschultrige Frau von etwa fünfundvierzig Jahren mit kurzem grauen Haar. Ihre weiche Haut war glatt und fahl. Byrne entdeckte auf ihrer Kopfhaut mehrere kahle Stellen und fragte sich, ob sie kürzlich eine Chemotherapie durchgemacht hatte. Er wurde wieder einmal daran erinnert, dass die Menschen in dieser Stadt ihre eigenen Probleme hatten und dass es nicht immer nur um ihn ging.
»Ja, normalerweise ist sie um diese Zeit schon da«, sagte Shakti.
»Hat sie angerufen?«
»Nein.«
»Beunruhigt Sie das nicht?«
Byrne sah, dass die Frau die Lippen ein wenig zusammenpresste, als hätte er durch seine Frage ihr mangelndes Interesse ihren Angestellten gegenüber angedeutet. Dann entspannte sie sich wieder. »Nein, Detective. Victoria ist eng mit unserem Zentrum verbunden, doch sie ist auch eine Frau. Und Single dazu. Bei uns geht es recht ungezwungen zu.«
Byrne stellte weitere Fragen und war erleichtert, dass er sie nicht beleidigt oder verstimmt hatte. »Hat kürzlich jemand nach ihr gefragt?«
»Victoria ist bei den Mädchen sehr beliebt. Sie betrachten sie eher als ältere Schwester, weniger als Betreuerin.«
»Ich meine jemanden, der nicht zum Haus gehört.«
Sie warf den Wischer in den Eimer und dachte kurz nach. »Wo Sie mich jetzt fragen… Ja, gestern hat ein Mann sich nach ihr erkundigt.«
»Was wollte er?«
»Er wollte sie sprechen, aber sie war gerade unterwegs, um sich ein Sandwich zu besorgen.«
»Was haben Sie ihm gesagt?«
»Nichts. Nur, dass sie nicht da sei. Er stellte mir noch ein paar Fragen. Neugierige Fragen. Ich rief Mitch hinzu. Daraufhin warf der Typ meinem Kollegen einen Blick zu und ist abgehauen.«
Shakti zeigte auf einen Mann, der drinnen an einem Tisch saß und Solitär spielte. Der Mann war ein wahrer Koloss. Mitch wog bestimmt mehr als drei Zentner.
»Wie sah der Mann aus?«
»Weiß, mittelgroß. Irgendwie hinterhältig. Er gefiel mir auf den ersten Blick nicht.«
Wenn jemand eine Antenne für hinterhältige Männer hatte, dann Shakti Reynolds, dachte Byrne. »Wenn Victoria auftaucht oder dieser Mann noch einmal nach ihr fragt, rufen Sie mich bitte an.« Byrne reichte ihr seine Karte. »Meine Handynummer steht auf der Rückseite. Unter dieser Nummer können Sie mich in den nächsten Tagen am besten erreichen.«
»Gut«, sagte sie und steckte die Karte in die Tasche ihres abgetragenen Flanellhemdes. »Darf ich Sie etwas fragen?«
»Bitte.«
»Muss ich mir Sorgen um Tori machen?«
Unbedingt, dachte Byrne. So große Sorgen, wie man sich nur machen kann. Er schaute in die klugen Augen dieser Frau und hätte gerne nein gesagt, aber sie
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