Byrne & Balzano 1: Crucifix
Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?«
Agnes Pinskys Blick glitt zwischen Jessica und Byrne hin und her, als begriffe sie soeben, dass sie mit völlig Fremden sprach. »Wie haben Sie mich gefunden?«
»Wir haben einfach an Ihre Tür geklopft, Mrs Pinsky.«
»Ist er krank?«
»Krank?«, fragte Byrne. »Wie kommen Sie darauf?«
»Sein Arzt war hier.«
»Wann war sein Arzt hier?«
»Gestern. Sein Arzt ist gestern zu ihm gekommen.«
»Woher wissen Sie, dass es ein Arzt war?«
»Woher ich das weiß? Mein Gott, ich weiß, wie Ärzte aussehen. Ich bin doch nicht blöd.«
»Wissen Sie, um wie viel Uhr der Arzt hier war?«
Agnes Pinsky starrte Byrne schweigend an. Es war eine unangenehme Stille. Offenbar war das Thema ihres Gesprächs in die düsteren Winkel ihres Gehirns gerückt. Sie sah aus wie eine Frau, die ungeduldig auf ihr Wechselgeld bei der Post wartete.
Sie würden einen Phantombildzeichner zu ihr schicken, doch die Chance, ein brauchbares Bild zu bekommen, war gering.
Jessica wusste allerdings, dass gerade nach den Angaben von Patienten, die an Alzheimer oder Demenz litten, oft sehr gute Bilder entstanden waren.
Sein Arzt war gestern bei ihm.
Es fehlte nur noch ein schmerzhaftes Mysterium, dachte Jessica, als sie die Treppe hinabstieg.
Wohin würden die Ermittlungen sie das nächste Mal führen? In welche Gegend würden sie mit ihren Waffen und Rammen kommen? Northern Liberties? Glenwood? Tioga?
In wessen Gesicht würden sie sprachlos und fassungslos starren?
Es bestand kein Zweifel, was sie das nächste Mal erwarten würde, falls sie wieder zu spät kamen. Das wussten sie alle. Dem letzten Mädchen stand eine Kreuzigung bevor.
Fünf der sechs Detectives versammelten sich im Lincoln Room des Finnigan’s Wake. Der Raum würde für das Publikum gesperrt sein, solange die Besprechung dauerte.
»Haben wir es hier mit einem Vampir zu tun?«, fragte Nick Palladino. Er stand an dem großen Fenster und schaute auf die Spring Garden Street. In der Ferne waren die Umrisse der Ben Franklin Bridge zu erkennen. Palladino konnte am besten nachdenken, wenn er stand, hin und her wippte, die Hände in den Taschen vergrub und mit seinem Kleingeld spielte.
»Um irgendein Gangmitglied ist es nicht schade, finde ich«, ereiferte Nick sich. »Diese Verbrecher, die mit ihren Handlangern andere Verbrecher abknallen, weil sie sich wegen einer Pferdewette oder wegen Geld in die Haare gekriegt haben. Oder weil sie sich in ihrer Ehre gekränkt fühlen oder was auch immer. Diesen Mist kann ich verstehen. Aber das?«
Jeder hier wusste, was er meinte. Es war viel einfacher, wenn die Motive wie ein Schild auf den Verbrechen klebten. Bei Habgier war es am einfachsten. Man musste nur den Spuren des Wohlstands folgen.
Palladino fuhr fort: »Payne und Washington wurden vorgestern nach Gray’s Ferry gerufen. Dort lag die Leiche eines Gangmitglieds. Jetzt habe ich gehört, dass sie den Schützen drüben in der Erie Avenue tot aufgefunden haben. Das gefällt mir. Saubere Sache.«
Byrne schloss die Augen eine Sekunde und öffnete sie dann wieder. Für ihn begann ein neuer Tag.
John Shepherd stieg die Treppe hinauf. Byrne gab Margaret, der Bedienung, ein Zeichen. Sie brachte John einen Jim Beam pur.
»Das Blut stammte von Kreuz«, sagte Shepherd. »Das Mädchen starb an einem gebrochenen Genick. Genau wie die anderen.«
»Und das Blut im Becher?«, fragte Tony Park.
»Auch von Kreuz. Die Gerichtsmedizin glaubt, dass der Mann das Blut durch den Strohhalm trinken musste, ehe er ausblutete.«
»Er musste sein eigenes Blut trinken …«, sagte Chavez, dem kalte Schauer über den Rücken liefen. Seine Worte waren keine Frage, sondern eine fassungslose Feststellung.
»Ja«, sagte Shepherd.
»Das ist amtlich«, sagte Chavez. »Ich hab’s gelesen.«
Die sechs Detectives mussten diese Information zuerst verdauen. Die Grausamkeiten im Zusammenhang mit den Morden des Rosenkranz-Killers wurden immer schrecklicher.
»Trinkt alle davon, denn dies ist mein Blut, das vergossen wird für die Vergebung der Sünden«, sagte Jessica.
Die Anwesenden runzelten die Stirn und blickten Jessica verständnislos an.
»Ich habe in letzter Zeit viel gelesen«, erklärte sie. »Der Gründonnerstag ist der Tag des letzten Abendmahls.«
»Dann war dieser Wilhelm Kreuz der Judas unseres Killers?«, fragte Palladino.
Jessica zuckte mit den Schultern. Dieser Gedanke war ihr auch schon gekommen. Den Rest der Nacht würden sie damit
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