Byrne & Balzano 1: Crucifix
Sie hatte in den letzten drei Monaten fünf Strafzettel bekommen; ihre beiden Uhren – die Digitaluhr und die Uhr ihres Videorecorders in ihrem Zimmer – blinkten seit fast zwei Jahren auf 12:00. Und als sie einmal versucht hatte, einen Geburtstagskuchen für ihre kleine Schwester Caitlin zu backen, wäre fast das Haus abgebrannt.
Mit sechzehn Jahren besaß Lauren Semanski den Bildungsstand eines viel jüngeren Mädchens, und vielleicht war sie die Erste, die es zugab.
Aber sie wusste, was gutes Speed war.
Lauren ließ das Röhrchen auf den Tisch fallen und lehnte sich auf der Couch zurück. Am liebsten hätte sie geheult. Sie sah sich im Zimmer um. Alle waren total zu. Jemand stellte die Musik lauter. Hörte sich nach Billy Corgan an.
»Low- rent «, brüllte Jeff, der sich gegen die laute Musik kaum durchsetzen konnte. Er benutzte zum tausendsten Mal Laurens Spitznamen, obwohl ihr das überhaupt nicht gefiel, spielte ein paar Takte Luftgitarre, sabberte auf sein Mars-Volta-T-Shirt und grinste wie eine Hyäne.
Mein Gott, was für ein Typ, dachte Lauren. Süß, aber doof. »Ich muss abhauen«, rief sie.
»Nee, komm, Lo.« Er hielt ihr das Röhrchen hin, als hätte sie sich nicht schon genug reingezogen.
»Ich kann nicht.« Eigentlich sollte sie schon längst im Supermarkt sein. Sie sollte eine Kirschglasur für den blöden Osterbraten kaufen. Als ob sie etwas essen müsste. Wer musste schon essen? Keiner, den sie kannte. Trotzdem musste sie sich beeilen. »Sie bringt mich um, wenn ich nicht einkaufen gehe.«
Jeff beugte sich mit verzerrter Miene über den Glastisch. Er war total high. Lauren hoffte auf einen Abschiedskuss, doch als er sich zurücklehnte, sah sie seine Augen.
Weggetreten.
Lauren stand auf, nahm ihre Tasche und den Regenschirm. Sie schaute auf die Körper, die in unterschiedlichen Rauschzuständen im Zimmer lagen. Die Fenster waren mit Papier beklebt. In allen Lampen steckten rote Glühbirnen.
Sie würde später hierher zurückkommen.
Jeff hatte genug Stoff fürs ganze Wochenende.
Lauren trat auf die Straße, ihre Ray Bans auf der Nase. Es regnete noch immer. Hörte es überhaupt noch mal auf? Aber sogar der bewölkte Himmel war zu grell für ihre Augen. Außerdem fand sie es total cool, wie sie mit der Sonnenbrille aussah. Manchmal trug sie das Ding sogar im Bett.
Sie räusperte sich und schluckte. Das Speed brannte in ihrer Kehle und versetzte ihr einen zweiten Schub.
Sie war total zugedröhnt. In diesem Zustand konnte sie unmöglich nach Hause. Da hing im Moment sowieso der Haussegen schief und auf die miese Stimmung hatte sie null Bock.
Lauren zog ihr Nokia heraus und dachte über eine Entschuldigung nach. Sie brauchte nur etwa eine Stunde, um von dem Trip herunterzukommen. Probleme mit dem Wagen? Der VW war in der Werkstatt, also würde das nicht ziehen. Ein Arztbesuch? Bitte, Lo. In dem Fall würde Großmutter B nach der Rechnung fragen. Welche Ausrede hatte sie schon länger nicht mehr benutzt? Da blieb nicht viel. Im letzten Monat war sie ungefähr vier Tage die Woche bei Jeff. Kam fast jeden Tag zu spät.
Ich weiß, dachte sie. Ich hab’s.
Tut mir Leid, ich schaff’s nicht, zum Essen nach Hause zu kommen. Man hat mich gekidnappt.
Haha. Als wenn ihr das etwas ausgemacht hätte.
Seit ihre Eltern letztes Jahr bei dem Autounfall gestorben waren, war ihr sowieso alles scheißegal.
Verdammt. Sie musste damit klarkommen.
Hinter den Geschäften an der Straßenecke überquerte sie den Parkplatz und bereitete sich innerlich auf die Vorhaltungen ihrer Großmutter vor.
»Hi, Lauren!«, rief jemand.
Sie drehte sich um. Wer hatte sie gerufen? Lauren ließ den Blick über den Parkplatz schweifen. Sie sah niemanden, nur ein paar Pkw, darunter auch einige Vans. Sie versuchte, die Stimme zu orten, schaffte es aber nicht.
»Hallo?«, sagte sie.
Stille.
Lauren zwängte sich rückwärts durch die Lücke zwischen einem Van und einem Brauerei-Lastwagen. Sie nahm die Sonnenbrille ab, schaute sich um, drehte sich im Kreis.
Plötzlich presste jemand eine Hand auf ihren Mund. Zuerst dachte sie, es wäre Jeff, aber sogar Jeff würde es nicht so weit treiben. Irgendwo hörte der Spaß auf. Das war wirklich nicht komisch. Sie wehrte sich, aber wer immer ihr diesen (gar nicht) lustigen Streich spielte, war stark. Verdammt stark.
Sie spürte den Einstich einer Nadel im linken Arm.
Was ist denn das für eine Scheiße?
Lauren wollte gerade auf den Typen losgehen, doch ihre Beine gaben nach.
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