Byrne & Balzano 1: Crucifix
Aufmerksamkeit auf den Gegenstand. Der Wind wirbelte Staub und Schmutz in den Wagen und verschleierte ihren Blick. Ihre Augen brannten. Dann sah sie die Spritze. Die Nadel war lang und spitz und tödlich.
Sie durfte nicht zulassen, dass er ihr noch etwas spritzte.
Auf keinen Fall.
Lauren Semanski nahm allen Mut zusammen.
Sie richtete sich auf Sie spürte, dass die Kraft in ihre Beine zurückkehrte.
Und stieß sich ab.
60.
Freitag, 10.15 Uhr
D as Philadelphia Police Department arbeitete unter erheblichem Druck der Öffentlichkeit und der Medien. Die drei großen Fernsehsender hatten ebenso wie Fox und CNN ihre Kamerateams in der Stadt verteilt und brachten ständig aktuelle Meldungen.
Mit dem eigenen Logo und der eigenen Erkennungsmelodie, berichtete der Lokalsender praktisch rund um die Uhr über den Rosenkranz-Killer. Dieser Sender gab auch eine Liste aller katholischen Kirchen bekannt, in denen Karfreitags-Messen stattfanden, und ein paar anderer, in denen Mahnwachen für die Opfer des Killers gehalten wurden.
Katholische Familien – vor allem mit Töchtern, ob sie nun Konfessionsschulen besuchten oder nicht – lebten mehr oder weniger in Angst und Schrecken. Die Polizei rechnete damit, dass verstärkt auf Unbekannte geschossen wurde. Postunternehmen, FedEx- und UPS-Fahrer waren einem besonders hohen Risiko ausgesetzt. Und das waren jene auch, gegen die andere irgendeinen Groll hegten.
Ich dachte, er wäre der Rosenkranz-Killer, Euer Ehren.
Ich musste ihn erschießen.
Ich habe eine Tochter.
Die Polizei hielt den Tod von Brian Parkhurst so lange wie möglich vor den Medien geheim, doch wie immer sickerte die Nachricht schließlich durch. Der Bezirksstaatsanwalt wandte sich an die Journalisten, die sich vor der Arch Street 1421 versammelt hatten. Als er gefragt wurde, ob es Beweise gebe, dass Brian Parkhurst der Rosenkranz-Killer war, musste er die Frage mit einem Nein beantworten. Parkhurst war nur ein wichtiger Zeuge gewesen.
Und so drehte das Karussell sich weiter.
Die Nachricht von dem vierten Opfer sorgte dafür, dass die Menschen aus ihren Löchern krochen. Als Jessica aufs Roundhouse zufuhr, sah sie ein paar Dutzend Leute auf den Bürgersteigen der Achten Straße; sie hielten Transparente, von denen die meisten das Ende der Welt proklamierten. Jessica glaubte, auf ein paar Plakaten die Namen Jezabel und Magdalena zu erkennen.
Drinnen war es noch schlimmer. Obwohl sie alle wussten, dass es zu keinen verwertbaren Spuren führen würde, mussten sie sämtliche Aussagen aufnehmen. Menschen aller Berufssparten und Gesellschaftsschichten glaubten, ihr Scherflein dazu beitragen zu müssen, diesen Reality-Krimi zu lösen. Insgesamt wurden mehr als hundert Aussagen aufgenommen.
Als Jessica in der Mordkommission eintraf und ihre Notizen für die Besprechung der SoKo ordnete, erregte das schrille Lachen einer Frau auf der anderen Seite des Raumes ihre Aufmerksamkeit.
Was ist denn das für eine Irre? , fragte sie sich.
Sie hob den Blick und erstarrte. Es war das blonde Mädchen mit dem Pferdeschwanz und der Lederjacke. Das Mädchen, das sie in Gesellschaft von Vincent gesehen hatte. Hier. Im Roundhouse. Als Jessica die junge Frau jetzt aus der Nähe betrachtete, stellte sie fest, dass sie nicht so jung war, wie sie ursprünglich angenommen hatte. Sie wunderte sich maßlos, sie hier zu sehen.
»Was zum Teufel ist denn das?«, sagte Jessica so laut, dass Byrne es hörte, und warf ihren Block auf den Schreibtisch.
»Was?«, fragte Byrne.
»Die will mich wohl verarschen«, sagte Jessica. Sie versuchte, sich zu beruhigen, was ihr nicht gelang. »Diese … Schlampe besitzt die bodenlose Frechheit, hier aufzutauchen!«
Jessica trat einen Schritt vor. Ihre Haltung musste wohl eine gewisse Bedrohung ausgedrückt haben, denn Byrne stellte sich zwischen Jessica und die blonde Frau.
»Halt«, sagte Byrne. »Bleib stehen. Was ist los?«
»Lass mich vorbei, Kevin.«
»Zuerst sagst du mir, was hier los ist.«
»Das ist die Schlampe, die ich neulich mit Vincent gesehen habe. Ich kann einfach nicht glauben …«
»Wer? Die Blonde?«
»Ja. Sie ist die …«
»Das ist Nicci Malone.«
»Wer?«
»Nicolette Malone.«
Jessica sagte der Name nichts. »Muss ich sie kennen?«
»Sie ist vom Rauschgiftdezernat. Sie sitzt in der Zentrale.«
Plötzlich löste sich etwas in Jessicas Brust, eine Eisscholle der Scham und der Schuldgefühle. Sie fröstelte. Vincent hatte nur seine Arbeit
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