Byrne & Balzano 1: Crucifix
Beamter.
»Bewachen Sie das Haus?«, fragte Byrne, wobei man die Ruine kaum noch als Haus bezeichnen konnte. Mindestens ein Drittel der Rückwand fehlte.
»Ja, Sir«, erwiderte der strohblonde Polizist Anfang dreißig. Auf seinem Namensschild stand R. van Dyck. Er war so muskulös, dass es beinahe aussah, als wäre er aufgepumpt worden. Seine Jacke spannte sich über den kräftigen Armen.
Sie zeigten dem Polizisten ihre Dienstmarken. Er nahm ihre Namen zu Protokoll. Dann betraten sie durch den Hintereingang das Haus. Als sie die schmale Treppe in den Keller hinabstiegen, schlug ihnen ein furchtbarer Gestank entgegen. Der Geruch von Schimmel und vermodertem Holz wurde vom Gestank menschlicher Exkremente und Schweiß überlagert. Jessica kam sich vor wie auf einer Müllhalde.
Das lange, schmale Kellergeschoss mit drei Stützpfeilern spiegelte den Grundriss des Reihenhauses von circa fünf mal acht Metern. Als Jessica den Lichtstrahl ihrer Taschenlampe durch den Kellerraum gleiten ließ, sah sie zerbrochene Gipskartonplatten, gebrauchte Kondome, zersplitterte Flaschen und eine verschlissene Matratze. Ein Albtraum für die Spurensuche. In dem feuchten Dreck waren wahrscheinlich tausende verschmierter Fußabdrücke, aber auf den ersten Blick schien sich keiner für einen brauchbaren Abdruck zu eignen.
Inmitten des Chaos saß ein hübsches, totes Mädchen.
Mit gespreizten Beinen saß sie in der Mitte des Raumes auf der Erde, die Arme um einen Stützpfeiler geschlungen. Es sah aus, als hätte ein ehemaliger Bewohner irgendwann versucht, die Stützpfeiler in dorische Säulen zu verwandeln, wozu er vermutlich Styropor benutzt hatte. Obwohl die Säulen einen Sockel und ein Gesims aufwiesen, bestand das einzige Gebälk aus einem seit langem verrosteten Deckenbalken. Der Fries war mit den Logos von Straßengangs und Obszönitäten übersät. Auf einer der Kellerwände war ein verblichenes Wandgemälde zu sehen, das vielleicht einst die sieben Hügel Roms darstellen sollte.
Die Tote war eine weiße Jugendliche, vielleicht sechzehn, siebzehn Jahre alt. Ihr zerzaustes rotblondes Haar fiel bis auf die Schultern. Sie trug einen Schottenrock, braune Kniestrümpfe und eine weiße Bluse unter einem braunen Pullover mit V-Ausschnitt, auf dem das Logo einer Schule abgebildet war. In der Mitte ihrer Stirn war ein Kreuz aus dunklem, kreideartigem Material aufgemalt.
Auf den ersten Blick konnte Jessica keine unmittelbare Todesursache feststellen, keine sichtbaren Schuss- oder Stichwunden. Obwohl der Kopf der Jugendlichen auf die rechte Schulter gesunken war, konnte Jessica den größten Teil der vorderen Halspartie erkennen. Es sah nicht so aus, als wäre das Mädchen erdrosselt worden.
Dann fiel Jessicas Blick auf die Hände.
Aus einer Entfernung von ein paar Schritten hätte man den Eindruck gewinnen können, die Hände der Toten wären zu einem Gebet gefaltet, doch die Wahrheit sah anders aus. Jessica musste zweimal hinsehen, um sich zu überzeugen, dass sie sich nicht geirrt hatte.
Sie blickte zu Byrne hinüber. Dem waren die Hände des Mädchens im selben Augenblick aufgefallen. Die beiden Detectives wechselten einen Blick und stimmten schweigend überein, dass es sich hier um keinen gewöhnlichen, im Affekt oder aus Leidenschaft begangenen Mord handelte. Ebenfalls wortlos einigten beide sich darauf, vorläufig auf Spekulationen zu verzichten. Die schreckliche Gewissheit dessen, was mit den Händen der jungen Frau geschehen war, konnte auf die Ergebnisse der Gerichtsmedizin warten.
Die junge Frau wirkte hier, inmitten der scheußlichen Umgebung, vollkommen fehl am Platze – eine zarte Rose, die über den moderigen Betonboden getreten und gezerrt worden war, dachte Jessica. Das schummrige Tageslicht, das durch die schmalen Kellerfenster fiel, verfing sich in ihrem Haar und verlieh ihr einen trüben Grabesschimmer.
Eins stand fest: Das Mädchen war hier in einer bestimmten Köperhaltung gleichsam deponiert worden, in aller Seelenruhe – und das war kein gutes Zeichen. In neunundneunzig Prozent der Mordfälle kann der Mörder den Tatort nicht schnell genug verlassen, was für die Ermittler von Vorteil ist. Allein schon der Gedanke an das Blut trieb manche Täter zur Flucht; sie drehten durch, wenn sie das Blut sahen, und ließen dabei ungewollt alles zurück, was man benötigt, um sie zu überführen. Aber jeder, der bleibt, um einen Toten in einer ganz bestimmten Art und Weise zurückzulassen, gibt damit eine Erklärung ab,
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