Byrne & Balzano 1: Crucifix
es einen Hinweis auf die Identität der Toten gibt, Detective Balzano?«
Jessica holte tief Luft und konzentrierte sich. »Okay«, sagte sie und hoffte, dass ihre Stimme nicht so unsicher klang, wie sie sich fühlte. Auf diesen Augenblick hatte sie monatelang gewartet, aber jetzt, da er gekommen war, fühlte sie sich unvorbereitet. Sie streifte ein Paar Latexhandschuhe über und ging langsam auf den Leichnam des jungen Mädchens zu.
In ihrer Zeit als Streifenbeamtin und bei der Verkehrspolizei hatte sie zahlreiche Leichen gesehen. Einmal hatte sie einen Toten auf dem Rücksitz eines gestohlenen Lexus an einem schwülen Tag auf dem Schuylkill Expressway bewacht und versucht, den Leichnam nicht anzusehen, der in der Hitze im Wageninnern jeden Moment zu explodieren drohte.
Damals hatte sie jedes Mal gewusst, dass sie die Ermittlungen abgeben musste.
Jetzt aber war es ihre Ermittlung.
Das tote junge Mädchen bat sie um Hilfe.
Vor ihr lag eine tote Jugendliche, deren Hände zu einem ewigen Gebet zusammengeschraubt waren.
Jessica wusste, dass der Leichnam des Opfers in diesem Stadium noch viele Spuren aufwies. Sie würde dem Mörder niemals näher sein: seinen Methoden, seinem kranken Geist, seiner Denkweise. Jessica riss die Augen auf und schärfte ihre Sinne.
Das Mädchen hielt einen Rosenkranz in den Händen. In der römisch-katholischen Kirche besteht der Rosenkranz aus einer Schnur mit Perlen und einem Kreuz. Normalerweise umfasst der Rosenkranz fünf Gebetsabschnitte aus jeweils einer großen und zehn kleineren Perlen. Bei den großen Perlen wird das Vaterunser gesprochen; bei den kleinen das Ave-Maria.
Als Jessica sich der Toten näherte, sah sie, dass der Rosenkranz aus schwarzen, geschnitzten, ovalen Holzperlen bestand, mit einer Madonna von Lourdes in der Mitte, wenn sie sich nicht irrte. Der Rosenkranz war um die Fingerknöchel des Mädchens geschlungen. Es war ein ganz gewöhnlicher Rosenkranz, aber bei näherer Betrachtung entdeckte Jessica, dass zwei der fünf Abschnitte fehlten.
Sie untersuchte behutsam die Hände der Toten. Ihre Fingernägel waren kurz und sauber und wiesen keine Spuren eines Kampfes auf. Keine Bruchstellen, kein Blut. Unter den Fingernägeln schien kein Material zu haften, aber sie würden die Hände der Toten vor dem Transport in die Gerichtsmedizin auf jeden Fall mit einer Schutzhülle versehen. Die Schraube, die durch ein Loch in der Mitte der Hände des Mädchens geschoben worden war, bestand aus Edelstahl. Es war eine neue, ungefähr zehn Zentimeter lange Schraube.
Jessica schaute sich das Zeichen auf der Stirn des Mädchens genau an. Bei näherer Betrachtung erkannte sie ein blaues Kreuz, wie es den Katholiken am Aschermittwoch auf die Stirn gestrichen wurde. Obwohl Jessica nicht besonders gläubig war, kannte sie die wichtigsten katholischen Feiertage und feierte sie auch. Seit Aschermittwoch waren fast sechs Wochen vergangen, aber dieses Zeichen war frisch. Es bestand aus einer kreideartigen Substanz.
Schließlich betrachtete Jessica das Label am Hals des Pullovers der Toten. Manchmal hinterließen Reinigungen Zettel mit dem Namen des Eigentümers oder einem Teil des Namens. Sie fand nichts dergleichen.
Jessica erhob sich mit wackligen Beinen und der Überzeugung, eine professionelle Untersuchung durchgeführt zu haben. Auf jeden Fall, soweit der erste Augenschein es zuließ.
»Hinweise auf den Namen der Toten?«, fragte Byrne, der an der Wand stand. Der Blick aus seinen klugen Augen glitt über alles und jeden hinweg, nahm alles auf
»Nein«, erwiderte Jessica.
Byrne verzog das Gesicht. Wenn ein Opfer am Tatort nicht identifiziert werden konnte, dauerte es manchmal Stunden oder sogar Tage, bis man herausgefunden hatte, wer der Tote war. Wertvolle Zeit, die nicht mehr aufgeholt werden konnte.
Jessica trat von dem Leichnam zurück, als die Beamten der Spurensuche ihre Arbeit aufnahmen. Gleich würden sie ihre Tyvek-Anzüge überstreifen, den Ort genauestens unter die Lupe nehmen und detaillierte Fotos und Videoaufnahmen machen. Dieser Ort war ein Tummelplatz für zwielichtige Gestalten und all jene, die am Rande der Gesellschaft lebten. Vermutlich gab es hier Fingerabdrücke von allen Obdachlosen Nord-Philadelphias. Die Spurensuche würde den ganzen Tag zu tun haben. Wahrscheinlich bis in die Nacht hinein.
Jessica stieg zum Erdgeschoss hinauf; Byrne blieb zurück. Sie wartete oben an der Treppe auf ihn, weil sie wissen wollte, ob es noch etwas für sie zu tun gab
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