Byrne & Balzano 1: Crucifix
Withers.«
»Hoffentlich gute«, brummte Withers. »Ich bin viel unterwegs. Die hier hab ich gerade erst eingelaufen.«
Byrne drehte sich zu Jessica um. »Wir könnten natürlich auch die Anwohner hier befragen, aber ich halte es für unwahrscheinlich, dass das Mädchen hier in der Gegend gewohnt hat«, sagte er mehr zu sich selbst. Es war sowieso kaum zu glauben, dass in diesen Häusern noch jemand lebte, erst recht keine weiße Familie mit einem Kind, das eine Konfessionsschule besuchte.
»Sie hat die Nazarene Academy besucht«, sagte Jessica.
»Woher weißt du das?«
»Die Uniform.«
»Was ist damit?«
»Meine hängt noch im Schrank«, sagte Jessica. »Ich habe diese Schule auch besucht.«
6.
Montag, 10.55 Uhr
D ie Nazarene Academy war der größte katholische Schulkomplex in Philadelphia mit mehr als tausend Schülern in den Stufen neun bis zwölf. Auf einem fünfzehn Hektar großen Campus im Nordosten Philadelphias gelegen und 1928 eröffnet, hatten dort seither zahlreiche Größen der Stadt, darunter Industrielle, Politiker, Ärzte, Rechtsanwälte und Künstler, ihren Highschool-Abschluss erworben. Die Verwaltungen fünf anderer katholischer Schulen waren in der Nazarene Academy untergebracht.
Als Jessica die Highschool besucht hatte, galt sie als beste Schule der Stadt, die bei jedem städtischen Schulwettbewerb siegte, an dem sie teilnahm: von Lokalsendern übertragene Wettkämpfe mit Gruppen von fünfzehn- oder sechzehnjährigen Schülern mit Zahnspangen, die an mit Fahnen bedeckten Tischen saßen und die Unterschiede zwischen etruskischen und griechischen Vasen aufzählten oder die Eckdaten des Krimkrieges herunterleierten.
Auf sportlichem Gebiet jedoch belegte die Nazarene bei sämtlichen Wettbewerben, an denen sie je teilnahm, den letzten Platz. Es war ein ungebrochener Rekord, vermutlich für die Ewigkeit, über den oft und gern gespottet wurde.
Als Byrne und Jessica die Schule durch den Haupteingang betraten und durch den Mädchentrakt gingen, weckten die hellgrau lackierten Wände, die mit Stuck verzierte Decke und der typische Geruch des Kantinenessens Jessicas Erinnerungen. Obwohl sie immer eine gute Schülerin gewesen war und selten in Schwierigkeiten geriet – trotz der zahlreichen Versuche ihrer Cousine Angela, sie immer wieder zu kleinen Diebstählen anzustacheln –, erfüllte die dünne Luft des akademischen Ortes und die Nähe zum Büro der Leiterin der Mädchenschule Jessica mit einer unbestimmten Angst. Sie trug eine 9-mm-Waffe an der Hüfte, war fast dreißig Jahre alt – und hatte schreckliche Angst. Vermutlich würde das immer so bleiben, wenn sie dieses Furcht erregende Gebäude betrat.
Sie wanderten durch die Korridore zum Büro der Schulleiterin, als es zur Pause läutete und hunderte junger Mädchen in ihren Schottenröcken auf die Flure strömten. Ein ohrenbetäubender Lärm setzte ein. Jessica war schon in der neunten Klasse gut eins siebzig groß gewesen und wog sechzig Kilo – ein Gewicht, das sie zum Glück bis heute (plus/minus fünf Pfund, meistens plus) gehalten hatte. Aber damals war sie größer gewesen als neunzig Prozent ihrer Klassenkameradinnen. Jetzt hatte sie den Eindruck, als hätte die Hälfte der Mädchen ihre Größe.
Jessica und Byrne folgten drei Mädchen den Gang hinunter zum Büro der Schulleiterin. Als Jessica die Mädchen beobachtete, fühlte sie sich in ihre eigene Schulzeit zurückversetzt. Vor zwölf Jahren hätte das Mädchen links, das energisch auf seiner Meinung beharrte, Tina Mannarino gewesen sein können. Tina war die Erste mit einer französischen Maniküre und die Erste, die heimlich eine Flasche Pfirsichschnaps zur Weihnachtsfeier in die Aula schmuggelte. Das kräftige Mädchen neben ihr, das das Bündchen ihres Rocks umschlug, um sich der strengen Kleiderordnung zu widersetzen, die vorschrieb, dass der Rocksaum beim Knien zwei Fingerbreit über dem Boden endete, hätte Judy Gunther sein können. Judy, die jetzt Judy Pressman hieß und nach den letzten Informationen vier Töchter hatte. So viel zu kurzen Röcken. Jessica wäre das Mädchen auf der rechten Seite gewesen: ein wenig zu groß, zu knochig und zu dünn; das Mädchen, das immer zuhörte, alles betrachtete, alles beobachtete; das sich von allen Dingen ein Bild machte und sich oft fürchtete, ohne es zu zeigen. Ein aufmerksames Mädchen, nicht besonders couragiert.
Die Mädchen trugen nun MP3-Player statt Sony Walkmen bei sich. Sie hörten
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