Byrne & Balzano 1: Crucifix
Hause gekommen war. Patricks Kuss hatte natürlich erheblich zu der raschen Heilung beigetragen. Der Gedanke daran zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht. Das Lächeln schmerzte, doch es war ein schöner Schmerz. Jessica lief zurück zum Telefon, doch ehe sie etwas sagen konnte, fügte Byrne hinzu:
»Ich glaube, dort werden wir mehr aus ihnen herausbekommen als in der Schule.«
»Klar«, erwiderte Jessica und begriff plötzlich, dass ihr Partner über Tessa Wells’ Freundinnen sprach.
»Ich hol dich in zwanzig Minuten ab«, sagte er.
Jessica schaute auf die Uhr. Zwanzig vor sechs. Zum Glück verließ Paula Farinaccis Mann das Haus um sechs Uhr, um zur Arbeit nach Camden zu fahren; darum war ihre Freundin und Babysitterin schon auf. Jessica konnte Sophie bei Paula abgeben und hatte noch genug Zeit zum Duschen.
»Okay«, sagte Jessica. »Okay. Kein Problem. Bis gleich.«
Sie legte auf schwang die Beine über den Bettrand – und wäre am liebsten wieder ins Bett gekrochen.
Willkommen in der Mordkommission.
20.
Dienstag, 6.00 Uhr
B yrne erwartete sie mit einem großen Becher Kaffee und einem Sesambrötchen. Der Kaffee war stark und heiß, das Brötchen frisch.
Jessica lief durch den Regen, sprang in den Wagen und nickte Kevin wortlos zu. Sie war zwar kein Morgenmuffel, aber um sechs Uhr früh war sie einfach noch nicht richtig fit. Sie konnte nur hoffen, dass sie keine unterschiedlichen Schuhe trug.
Schweigend fuhren sie in die Stadt. Byrne räumte ihr die notwendige Zeit ein, um richtig wach zu werden. Offenbar begriff er, dass er sie recht unsanft aus dem Schlaf gerissen hatte. Er hingegen wirkte hellwach. Ein wenig zerzaust, aber mit großen Augen und putzmunter.
Männer haben es einfach, dachte Jessica. Ein sauberes Hemd, kurze Rasur im Wagen, ein Spritzer Binaca, ein Tropfen Visine, und fertig waren sie für den Tag.
Sie fuhren auf geradem Wege nach Nord-Philadelphia und parkten den Wagen in der Nähe der Ecke Zwanzigste und Poplar. Byrne schaltete um halb sieben das Radio ein. Der Mord an Tessa Wells wurde erwähnt.
Da sie noch eine halbe Stunde Zeit hatten, machten sie es sich auf den Sitzen bequem. Ab und zu schaltete Byrne die Zündung ein, um die Scheibenwischer und die Lüftung zu betätigen.
Sie sprachen über die Nachrichten, das Wetter und den Job und landeten dann bei dem Thema, das sie am meisten bewegte.
Töchter.
Und dies führte sie in den Mittelpunkt des brutalen Verbrechens an Tessa Wells. Es hätte auch ihr Kind sein können.
»Sie wird nächsten Monat drei«, sagte Jessica.
Sie zeigte Byrne ein Foto von Sophie. Kevin Byrne lächelte. Jessica stellte fest, dass sich unter seiner rauen Schale ein weicher Kern verbarg. »Sie sieht aus wie eine kleine Nervensäge.«
»Eine große Nervensäge«, sagte Jessica. »Du weißt ja, wie sie in dem Alter sind. Alle zwei Sekunden wollen sie was von einem.«
»Ja.«
»Vermisst du diese Zeit?«
»Ich habe sie vermisst«, sagte Byrne. »Damals habe ich rund um die Uhr gearbeitet.«
»Wie alt ist deine Tochter jetzt?«
»Zwölf«, sagte Byrne. »In zwei Monaten wird sie dreizehn.«
»Oje«, sagte Jessica.
»Das kannst du laut sagen.«
»Sie hat sicher einen ganzen Stapel Britney-CDs, oder?«
Byrne lächelte ein wenig gequält. »Nein.«
»Nein? Sag nicht, sie interessiert sich für Rap.«
Byrne drehte den Kaffeebecher in den Händen. »Meine Tochter ist gehörlos.«
»O Gott«, murmelte Jessica verlegen. »Es … es tut mir Leid.«
»Schon okay.«
»Ich meine … ich wusste nicht …«
»Kein Problem. Sie hasst Mitleid. Und sie ist viel zäher als du und ich zusammen.«
»Ich meinte …«
»Ich weiß. Meine Frau und ich haben jahrelang getrauert. Das ist ganz normal«, sagte Byrne. »Aber um ehrlich zu sein, den gehörlosen Menschen, der sich als behindert betrachtet, muss ich erst noch kennen lernen. Für Colleen gilt das schon gar nicht.«
Da Jessica das Thema durch ihre Fragen unfreiwillig angeschnitten hatte, war sie der Meinung, es nun auch vertiefen zu können. »Wurde sie gehörlos geboren?«
Byrne nickte. »Ja. Mondini-Dysplasie. Das ist genetisch bedingt.«
Jessica musste an Sophie denken, die zu einem Lied der Sesamstraße durchs Wohnzimmer tanzte. Oder die mit lauter Stimme sang, wenn sie in der Badewanne saß. Wie ihre Mutter konnte sie keinen Ton halten, bemühte sich aber redlich. Jessica dachte an ihr gescheites, gesundes, hübsches kleines Mädchen und wie glücklich sie
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