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Byrne & Balzano 1: Crucifix

Byrne & Balzano 1: Crucifix

Titel: Byrne & Balzano 1: Crucifix Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Montanari
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war.
    Sie schwiegen. Byrne schaltete die Scheibenwischer und die Lüftung ein. Jetzt hatten sie wieder klare Sicht. Die Mädchen standen noch nicht an der Ecke. Der Verkehr auf der Poplar nahm zu.
    »Ich habe sie einmal beobachtet«, sagte Byrne ein wenig melancholisch, als hätte er lange nicht mehr über seine Tochter gesprochen und eine Gelegenheit herbeigesehnt. »Ich wollte sie an der Gehörlosenschule abholen und war zu früh dort. Also parkte ich am Straßenrand, rauchte eine und las Zeitung.
    Dann sehe ich eine Gruppe Schüler an der Ecke stehen, zwölf oder dreizehn Jahre alt. Ich achtete nicht wirklich auf sie. Sie waren alle wie Penner gekleidet. Du weißt schon. Baggy-Hosen, viel zu weite T-Shirts, aufgeschnürte Sneakers. Plötzlich erkenne ich Colleen in der Gruppe. Sie lehnt an einer Mauer, und ich habe das Gefühl, sie wäre eine andere. Als wäre sie ein Kind, das Colleen ähnelt .
    Plötzlich interessieren mich die anderen Jugendlichen sehr. Wer was macht, wer was in der Hand hält, wer welche Klamotten trägt, was ihre Hände machen, was in ihren Taschen steckt. Als würde ich sie von der anderen Straßenseite aus abtasten.«
    Byrne trank einen Schluck Kaffee und schaute auf die Straßenecke. Noch keiner da.
    »Sie behauptet sich zwischen den älteren Jungen, lächelt, plaudert in der Zeichensprache und wirft ihr Haar zurück«, fuhr er fort. »Und ich denke: Mein Gott. Sie flirtet . Mein kleines Mädchen flirtet mit diesen Jungen. Mein kleines Mädchen, das noch vor ein paar Wochen mit ihrem kleinen gelben T-Shirt, Ich hatte eine wilde Zeit in Wildwood, in ihr Plastikauto stieg und die Straße hinunterfuhr, flirtet mit diesen Jungen. Am liebsten wäre ich ausgestiegen und hätte den kleinen geilen Böcken was aufs Maul gehauen.
    Und dann sehe ich, wie sich einer einen Joint ansteckt. Mir bleibt das Herz stehen. Ich höre tatsächlich, wie es wie eine billige Uhr in meiner Brust aufhört zu schlagen. Ich will gerade aussteigen, hab die Handschellen schon in der Hand, als ich begreife, was ich Colleen damit antun würde, also beobachte ich sie nur.
    Sie lassen den Joint kreisen, als wäre es die normalste Sache der Welt. Ich warte und beobachte sie. Dann reicht einer der Jungen Colleen den Joint, und ich wusste, wusste ganz genau, dass sie ihn nehmen und rauchen würde … und dann liefen die nächsten fünf Jahre ihres Lebens vor meinen Augen ab. Gras und Alkohol und Koks und Entzug und Nachhilfeunterricht, um alles nachzuholen, was sie in der Schule versäumt hatte, und noch mehr Drogen und Tabletten und dann … dann geschah das Unfassbare.«
    Jessica bemerkte, dass sie Byrne gebannt anstarrte und auf das Ende der Geschichte wartete. »Was geschah dann?«
    »Sie schüttelte einfach den Kopf«, sagte Byrne. »Einfach so. Nein, danke . Ich hatte ihr in diesem Augenblick misstraut, meinem kleinen Mädchen vollkommen mein Vertrauen entzogen, und ich hätte mir am liebsten die Augen aus dem Kopf gerissen. Ich hatte die Möglichkeit gehabt, ihr zu vertrauen, vollkommen unbeobachtet, und ich hatte versagt. Ich hatte versagt. Nicht sie.«
    Jessica nickte und verdrängte den Gedanken, dass auch sie in zehn Jahren diesen Problemen gegenüberstehen würde. Darauf freute sie sich nicht gerade.
    »Und auf einmal wurde mir klar«, sagte Byrne, »nach all den Jahren der Sorge, all den Jahren, in denen wir sie behandelt hatten, als wäre sie zerbrechlich, all den Jahren, da wir auf der Straßenseite des Bürgersteigs gingen, all den Jahren, da wir auf die Idioten starrten, die sie beobachteten, wenn sie sich in der Öffentlichkeit per Zeichensprache verständigte … all das war unnötig. Sie ist viel zäher als ich. Ich hätte einen Tritt in den Hintern verdient.«
    »Kinder überraschen uns immer wieder.« Jessica begriff wie unpassend diese Bemerkung war und wie wenig sie über das Thema wusste.
    »Ich meine unsere Angst vor all den Krankheiten, die unsere Kinder haben könnten: Diabetes, Leukämie, Gelenkrheumatismus, Krebs. Mein kleines Mädchen war gehörlos. Das ist alles. Abgesehen davon ist sie in jeder Hinsicht perfekt. Herz, Lungen, Glieder, Verstand. Perfekt. Sie kann laufen wie ein Wiesel. Und sie hat ein Lächeln, das Eisberge zum Schmelzen bringt. Die ganze Zeit dachte ich, sie wäre behindert, weil sie nicht hören konnte. Dabei war ich es. Ich war derjenige, der eine Therapie gebraucht hätte. Mir war gar nicht bewusst, wie glücklich wir waren.«
    Jessica wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie

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