Byrne & Balzano 3: Lunatic
nicht, wenn sie glaubten, sie könnten einen Polizisten auf offener Straße hinrichten und ungeschoren davonkommen.
»Hallo, Partner.«
Jessica drehte sich um. Es war Nicci Malone. Sie mochte Nicci sehr, aber es klang irgendwie ... sonderbar. Nein, es klang falsch . Doch wie in jedem anderen Job musste man tun, was der Chef sagte; daher arbeitete Jessica vorläufig mit der einzigen anderen Frau in der Mordkommission von Philadelphia zusammen.
»Hallo.« Mehr brachte Jessica im Augenblick nicht heraus. Sie war sicher, dass Nicci sie durchschaute.
»Bist du bereit?«, fragte Nicci.
»Ja, es kann losgehen.«
64.
J essica und Nicci fuhren die Achte Straße hinunter. Es hatte wieder zu regnen angefangen. Byrne hatte sie noch nicht angerufen.
»Bring mich auf den neuesten Stand«, bat Jessica, die noch immer ein wenig durcheinander war. Sie war es gewohnt, an mehreren Fällen gleichzeitig zu arbeiten – tatsächlich ermittelten die meisten Detectives der Mordkommission in drei oder vier Fällen zugleich –, doch im Augenblick hatte sie noch Probleme, umzudenken und sich auf die Mentalität eines neuen Täters einzustellen. Und auf ihre neue Partnerin. Heute Morgen hatte sie über einen Psychopathen nachgedacht, der seine Opfer ans Flussufer setzte. Sie hatte die Titel bekannter Märchen von Hans Christian Andersen im Kopf gehabt – Die kleine Meerjungfrau , Die Prinzessin auf der Erbse , Das hässliche Entlein – und sich gefragt, welches Märchen als Nächstes an der Reihe war, falls der Killer erneut zuschlug. Jetzt jagte sie einen Polizistenmörder.
»Eines dürfte wohl feststehen«, sagte Nicci. »Walt Brigham wurde nicht das Opfer eines stümperhaften Raubmordes. Man übergießt niemanden mit Benzin und zündet ihn an, um ihm die Brieftasche zu klauen.«
»Du glaubst, es war jemand, den Walt Brigham in den Knast gesteckt hat?«
»Könnte gut sein. Wir sind seine sämtlichen Verhaftungen und Verurteilungen der letzten fünfzehn Jahre durchgegangen. Leider ist kein Feuerteufel darunter.«
»Ist einer von denen denn kürzlich aus dem Knast entlassen worden?«
»Nicht in den letzten sechs Monaten. Ich glaube auch nicht, dass jemand so lange warten würde, um sich an dem Mann zu rächen, der ihn in den Knast gebracht hat, oder?«
Nein, dachte Jessica. Aus dem Mord an Walt Brigham sprach schreckliche Wut – ein krankhafter Zorn und abgrundtiefer Hass. »Könnte es jemand sein, der in Walts letzten Fall verwickelt war?«, fragte sie.
»Glaube ich nicht. In seinem letzten offiziellen Fall ging es um ein Ehedrama. Eine Frau hat ihren Mann mit einem Brecheisen erschlagen. Er ist tot, und sie sitzt im Gefängnis.«
Jessica wusste, was das bedeutete. Da es für den Mord an Walt Brigham keine Augenzeugen gab und sie keine Spuren hatten, mussten sie tief graben. Sie mussten jeden überprüfen, den Walt Brigham verhaftet, überführt oder auch nur verärgert hatte, wobei sie bei seinem letzten Fall beginnen und sich dann zu den alten Fällen durcharbeiten mussten. Das würde den Kreis der Verdächtigen einengen – auf ein paar tausend Personen.
»Dann müssen wir uns aufs Archiv stürzen?«
»Bevor wir uns durch die Akten wühlen, könnten wir noch etwas anderes versuchen«, sagte Nicci.
»Ich bin ganz Ohr.«
»Ich habe mit Walts Frau gesprochen. Sie sagt, er hatte einen Lagerraum gemietet. Wenn es eine persönliche Sache war und nicht direkt mit seinem Job zu tun hatte, könnten wir dort vielleicht etwas finden.«
»Hauptsache, ich muss nicht in Aktenschränken wühlen«, sagte Jessica. »Wie kommen wir da rein?«
Nicci hielt einen Schlüssel hoch. »Ich bin heute Morgen bei Marjorie Brigham vorbeigefahren.«
Das Easy Max Storage in der Mifflin Street war ein großes, U-förmiges, zweistöckiges Gebäude mit mehr als hundert Lagerräumen unterschiedlicher Größe. Einige waren beheizt, andere nicht. Leider hatte Walt Brigham keinen beheizten Lagerraum gemietet. Die beiden Frauen hatten das Gefühl, ein Kühlhaus zu betreten.
Der Raum war ungefähr zweieinhalb mal drei Meter groß, und fast bis unter die Decke stapelten sich Kartons. Zum Glück hatte Walt Brigham alles systematisch sortiert. Es waren ausschließlich Kartons derselben Marke und Größe – Faltkartons, wie man sie in Geschäften für Bürozubehör kaufen konnte. Die meisten Kartons waren mit Etiketten und Daten versehen.
Sie begannen ganz hinten. Drei Kartons enthielten ausschließlich Weihnachts- und Geburtstagskarten. Viele Karten
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