Byrne & Balzano 3: Lunatic
stammten von Walts Kindern. Als Jessica die Karten durchsah, erlebte sie gewissermaßen mit, wie die Jahre verstrichen und wie sich die Grammatik und Handschrift der Kinder verbesserte, als sie älter und reifer wurden. Bald wichen die bunten, selbst gemalten Karten und die ungelenken, liebevollen Zeilen aus der Kinderzeit den schnoddrigen, hingeworfenen Worten der Jugendlichen, auf Ansichtskarten gekritzelt und mit grußloser Unterschrift.
Ein anderer Karton enthielt ausschließlich Straßenkarten und Reiseprospekte. Offenbar waren Walt und Marjorie im Sommer oft mit dem Wohnmobil unterwegs gewesen und hatten Reisen nach Wisconsin und Florida, Ohio und Kentucky gemacht.
Unten im Karton lag ein vergilbter Zettel aus einem Notizheft, auf dem zwölf Mädchennamen standen, darunter Melissa, Arlene, Rita, Elizabeth, Cynthia. Bis auf einen letzten Namen waren alle durchgestrichen. Der letzte Name war Roberta – so hieß Walts älteste Tochter. Jessica wusste, was sie gefunden hatte: Es war die Auflistung von Namensvorschlägen für das erste Kind eines Paares. Gerührt legte sie den Zettel zurück in den Karton.
Während Nicci ein paar Kartons mit Briefen und Haushaltsdokumenten durchsah, schaute Jessica sich Fotos an: Hochzeiten, Geburtstagsfeiern, Schulabschlussfeiern, Feiern des Police Departments. Jedes Mal, wenn man in persönlichen Dingen eines Mordopfers herumwühlte, befand man sich in einer Zwickmühle: Man musste so viele Informationen wie möglich sammeln – was aber kaum möglich war, ohne die Privatsphäre zu verletzen.
Andere Kartons enthielten noch mehr Fotos und Erinnerungen, alle sorgfältig datiert und sortiert. Ein unglaublich junger Walt Brigham auf der Polizeiakademie, ein hübscher Walt Brigham an seinem Hochzeitstag in einem schicken marineblauen Smoking. Bilder von Walt in Uniform. Walt mit seinen Kindern im Fairmount Park. Walt und Marjorie Brigham, die an irgendeinem Strand in die Kamera blickten, vielleicht in Wildwood, mit roten Gesichtern, die einen schmerzhaften Sonnenbrand erahnen ließen.
Was konnte man all dem entnehmen? Was Jessica bereits vermutet hatte: Walt Brigham war nicht in dubiose Machenschaften verwickelt. Er war ein Familienmensch, der die Erinnerungen an die Wendepunkte seines Lebens sammelte und in Ehren hielt. Weder Jessica noch Nicci fanden einen Hinweis darauf, warum jemand einen Grund gehabt hätte, Walt auf so schreckliche und gewalttätige Weise das Leben zu nehmen.
Sie wühlten noch in anderen Kartons und drangen immer tiefer in die Erinnerungen des Toten ein.
65.
D as dritte Opfer, das sie am Ufer des Schuylkill River gefunden hatten, hieß Lisette Simon. Sie wohnte mit ihrem Ehemann in Upper Darby. Die Simons hatten keine Kinder.
Lisette, einundvierzig Jahre alt und nur einen Meter zwanzig groß, arbeitete in einem psychiatrischen Bezirkskrankenhaus in Nord-Philadelphia. Ihr Ehemann Ruben war Anwalt in einer großen Kanzlei im Nordosten der Stadt. Die Ermittlungsbeamten wollten heute Nachmittag mit ihm sprechen.
Nick Palladino und Tony Park waren aus Norristown zurückgekehrt. Niemand im Centre Theater hatte einen Mann bemerkt, der besonderes Interesse an Tara Grendel bekundet hatte.
Obwohl das Foto von Sa’mantha Fanning immer wieder in regionalen und überregionalen Medien – Fernsehen und Presse – veröffentlicht wurde, gab es bisher keine Spur von der jungen Frau.
Die Magnettafel war mit Fotos, Notizen und Spickzetteln übersät, ein Mosaik aus unterschiedlichsten Anhaltspunkten und Sackgassen.
Byrne stand davor – ungeduldig, zornig und ein wenig ratlos.
Er brauchte seine Partnerin.
Sie wussten alle, dass der Mord an Brigham politische Dimensionen annahm. Es musste unbedingt Bewegung in den Fall kommen, und zwar schnell. Sie durften nicht zulassen, dass hochrangige Polizeioffiziere der Stadt Philadelphia in Gefahr schwebten.
Es bestand kein Zweifel, dass Jessica zu den besten Detectives des Dezernats gehörte. Byrne kannte Nicci Malone nicht sehr gut, aber sie hatte einen guten Ruf. Sie gehörte zu den Detectives aus dem Norden und hatte während ihrer Zeit auf den Straßen der Stadt zahlreiche Belobigungen erhalten.
In einer Behörde, die so sehr im Visier der Politik stand wie das Police Department, war es ein kluger Schachzug, zwei weibliche Detectives auf einen Fall anzusetzen, der ein dermaßen großes öffentliches Interesse auf sich zog.
Außerdem, überlegte Byrne, könnte das Interesse der Medien dadurch ein wenig von der
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