Byrne & Balzano 3: Lunatic
Mut haben würde?
78.
J essica durchsuchte die Truhe von oben bis unten und blätterte jede Zeitschrift durch. Sonst fand sie nicht viel. Ein paar vergilbte Rezepte, ein paar Schnittmuster, einen Karton mit kleinen in Zeitungspapier eingewickelten Mokkatassen. Die Zeitung, in die die Tässchen eingewickelt waren, trug das Datum vom 22. März 1950. Jessica wandte sich wieder der Mappe zu.
Hinten in der Mappe steckte ein Blatt mit zahlreichen grauenhaften Zeichnungen, die erhängte, verstümmelte, aufgeschlitzte und zerstückelte Gestalten darstellten. Es war das Gekritzel eines Kindes, das Jessica furchtbar verwirrte.
Sie sah sich die erste Seite noch einmal an, den Zeitungsartikel über die Ermordung von Annemarie DiCillo und Charlotte Waite. Nicci las ihn ebenfalls.
»Okay«, sagte Nicci. »Ich ruf die Kollegen an. Wir brauchen Verstärkung. Walt Brigham wollte denjenigen, der hier mal gewohnt hat, für den Mord an Annemarie DiCillo drankriegen, und es sieht so aus, als hätte er recht gehabt. Weiß Gott, was wir hier noch finden.«
Jessica reichte Nicci ihr Handy. Nachdem Nicci es ein paar Mal probiert hatte, ohne im Keller eine Verbindung zu bekommen, stieg sie die Treppe hinauf und trat ins Freie.
Jessica wandte sich wieder den Kisten zu.
Wer hat hier gewohnt?, fragte sie sich. Wo ist diese Person jetzt?
Wenn der oder die Betreffende noch in dieser Gegend wohnte, würden es die Leute in einer Kleinstadt wie dieser bestimmt wissen. Jessica wühlte in den Kisten, die in der Ecke standen. Sie fand noch andere alte Zeitungen, einige in einer Sprache, die sie nicht kannte, vielleicht Holländisch oder Dänisch. Ein paar verschimmelte Brettspiele verrotteten in ihren Kartons. Auf die Ermordung von Annemarie DiCillo wies sonst nichts hin.
Jessica öffnete eine weitere Kiste, die in etwas besserem Zustand war als die anderen. Es lagen Zeitungen und Zeitschriften jüngeren Datums darin. Obenauf lag ein kompletter Jahrgang von Amusement Today , eine Zeitschrift im Stil von Rundschreiben, bei der es sich offenbar um ein Fachmagazin für Vergnügungsparks handelte. Jessica drehte ein Exemplar um und entdeckte einen Adressaufkleber. M. Damgaard.
War das Walt Brighams Mörder? Jessica riss den Adressaufkleber heraus und steckte ihn in ihre Tasche.
Sie schob gerade ein paar Kisten zur Tür, als sie ein Geräusch hörte und mitten in der Bewegung verharrte. Zuerst hörte es sich an, als würde trockenes Holz im Wind knacken. Dann hörte sie es wieder: das Geräusch von altem, dürrem Holz.
»Nicci?«
Keine Antwort.
Jessica wollte gerade die Treppe hinaufsteigen, als sie Schritte hörte, die sich schnell näherten. Rennende Schritte, die der Schnee dämpfte. Im nächsten Augenblick hörte es sich an, als würde gekämpft oder als würde Nicci sich mit irgendetwas abschleppen. Dann wieder ein Geräusch. Ein Ruf.
Ihr Name?
Hatte Nicci sie gerade gerufen?
»Nicci?«, rief Jessica.
Stille.
»Hast du Kontakt mit dem ...?«
Jessica beendete den Satz nicht. In diesem Augenblick wurden die schweren Kellertüren zugeschlagen. Der Knall hallte von den Steinwänden des kleinen Raumes wider.
Dann hörte Jessica ein noch viel unheimlicheres Geräusch.
Die schweren Türen wurden mit dem Querbalken verschlossen.
Von außen.
79.
B yrne ging über den Parkplatz hinter dem Roundhouse. Er spürte die Kälte nicht. Er dachte an John Longo und seine Geschichte: Walt Brigham sei überzeugt gewesen, hatte Longo gesagt, dass der Vergewaltiger Joseph Barber von einer Art Bürgerwehr ermordet worden war, nur gab es nie Beweise dafür.
Derjenige, der Byrne diese Bilder geschickt hatte – wahrscheinlich Walt Brigham selbst –, wollte diese Argumentation untermauern. Warum sonst waren die Gegenstände auf den Fotos alle lavendelblau? Es musste eine Art Visitenkarte sein, die dieser Angehörige der Bürgerwehr zurückließ.
Jemand, der es selbst in die Hand genommen hatte, jene Männer zu beseitigen, die kleinen Mädchen und jungen Frauen Gewalt angetan hatten.
Jemand, der die Verdächtigen getötet hatte, ehe die Polizei Haftbefehl gegen sie erlassen konnte.
Ehe Byrne in den Nordosten gefahren war, hatte er im Archiv angerufen und gebeten, sämtliche ungelösten Mordfälle der letzten zehn Jahre herauszusuchen und sie auf das Stichwort »Lavendelblau« hin zu durchforsten.
Byrne dachte an John Longo, der sich in seinem Keller verkroch und Vogelhäuschen baute. Vermutlich machte Longo auf andere einen zufriedenen Eindruck.
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