Byrne & Balzano 3: Lunatic
elektrostatischen Störungen. Dann Atmen.
»Jessica«, rief Vincent.
Stille. Nur leises statisches Rauschen. Byrne schaute auf das Display. Die Verbindung stand noch.
»Jess!«
Nichts. Ein Rascheln. Dann eine leise Stimme. Die Stimme eines Mannes.
»Kleine Mädchen, hübsch und fein.«
»Was?«, rief Vincent.
»Tanzen einen Ringelreih’n.«
»Wer zum Teufel ist da?«
»Wie zwei Kreisel, summ, summ, summ.«
»Antworten Sie!«
»Dreh’n sie sich im Kreis herum.«
Als Byrne den Gesang hörte, überlief ihn eine Gänsehaut. Er musterte Vincent. Seine Miene war ausdruckslos und undurchdringlich.
Dann wurde die Verbindung abgebrochen.
Vincent drückte auf Schnellwahl. Das Handy klingelte wieder. Er nahm den Anruf entgegen, hörte aber nur ein leises Rauschen und schaltete das Handy aus.
»Was ist passiert?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Byrne. »Aber wir sollten Gas geben, Vince.«
Vincent vergrub das Gesicht in den Händen und hob dann den Blick. »Wir müssen sie finden!«
Byrne stieg vor dem Tor aus dem Wagen. Eine dicke, verrostete Eisenkette mit einem alten Vorhängeschloss war mehrmals um den Pfosten geschlungen. Das Tor schien seit Ewigkeiten nicht geöffnet worden zu sein. Die Straße, die tiefer in den Wald führte, fiel zu beiden Seiten bis zu den zugefrorenen Bachdurchlässen ab. Es gab nur diesen einen Weg. Die Scheinwerfer des Wagens durchdrangen die Nacht höchstens zwanzig Meter weit; dann wurde das Licht von der Finsternis verschluckt.
Vincent stieg aus, ging zum Kofferraum und zog eine Shotgun heraus. Er lud die Waffe durch und schlug den Kofferraum zu. Dann beugte er sich in den Wagen, schaltete die Scheinwerfer aus, stellte den Motor ab und zog den Schlüssel ab. Jetzt herrschte vollkommene Dunkelheit. Stille Nacht.
Die beiden Detectives aus Philadelphia standen mitten auf dem kahlen Land Pennsylvanias.
Ohne ein Wort zu sagen, liefen sie den Pfad hinunter.
91.
» E s konnte nur hier gewesen sein«, sagte Bontrager. »Ich habe die Märchen gelesen, und plötzlich wurde mir alles klar. Nur hier konnte es gewesen sein. Märchenpark StoryBook River. Ich hätte eher darauf kommen können. Als es mir klar wurde, bin ich sofort losgefahren. Ich wollte den Chef anrufen, aber ganz sicher war ich mir auch nicht. Außerdem ist Silvester.«
Josh Bontrager stand jetzt mitten auf der Fußgängerbrücke. Jessica versuchte, das alles zu verarbeiten. Im Augenblick wusste sie nicht, was sie glauben sollte und wem sie noch trauen konnte.
»Du hast diesen Park gekannt?«, fragte Jessica.
»Ich bin nicht weit von hier aufgewachsen. Wir durften zwar nicht hierhin gehen, wussten aber alles darüber. Meine Großmutter hat den Besitzern manchmal unser Einmachobst verkauft.«
»Josh.« Jessica zeigte auf seine Hände. »Wessen Blut ist das?«
»Es stammt von einem Mann, den ich gefunden habe.«
»Ein Mann?«
»Unten am ersten Kanal«, sagte Josh. »Es ... es ist ziemlich übel.«
»Wen hast du gefunden?«, fragte Jessica. »Wovon sprichst du?«
»Er liegt in einem dieser Schaukästen.« Bontrager blickte kurz auf den Boden. Jessica wusste nicht, wie sie diesen Blick deuten sollte. »Ich zeig es dir«, sagte er dann und hob den Kopf.
Sie überquerten die Fußgängerbrücke. Die Kanäle schlängelten sich an den Bäumen vorbei bis in den Wald. Die Detectives liefen an der schmalen Randbefestigung entlang. Bontrager leuchtete den Weg mit seiner Taschenlampe aus. Nach ein paar Minuten erreichten sie eines der Dioramen. Es bestand aus einem Ofen, ein paar großen hölzernen Schneeflocken und einem schlafenden Hund aus Stein. Bontrager richtete das Licht seiner Taschenlampe auf eine Gestalt, die mitten in dem Schaukasten auf einem Thron aus Zweigen saß. Der Kopf der Gestalt war in ein rotes Tuch gehüllt.
Darüber hing ein Schild mit der Aufschrift: Der Schneemann .
»Ich kenne das Märchen«, sagte Bontrager. »Es geht um einen Schneemann, der sich nach einem Ofen sehnt.«
Jessica trat näher an die Gestalt heran und zog vorsichtig das Tuch weg.
Dunkles Blut, das im Licht der Taschenlampe schwarz schimmerte, tropfte in den Schnee.
Der Mann war gefesselt und geknebelt. Aus seinen leeren Augenhöhlen sickerte Blut. Jemand hatte ihm die Augen herausgeschnitten.
»Mein Gott«, flüsterte Jessica.
»Was ist?«, fragte Bontrager. »Kennst du ihn?«
Jessica rang um Fassung. Der Mann war Roland Hannah.
»Hast du überprüft, ob er noch lebt?«, fragte sie.
Bontrager schaute auf den Boden. »Nein,
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