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Byrne & Balzano 4: Septagon

Titel: Byrne & Balzano 4: Septagon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Montanari
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nicht mehr aufzuhalten. Sie rannen ihr über die Wangen aufs Kinn, auf den Hals und auf den Stoff des Ohrensessels. Sie fragte sich, wie viele Tränen wohl schon auf diesen Sessel getropft und wie viele Rinnsale des Kummers ins Polster eingedrungen waren.
    »Nein«, log sie.
    Er legte den Stift aus der Hand. »Erzählen Sie mir von dem Traum.«
    Eve zog ein paar Papiertücher aus der Box und tupfte sich die Augen. Dabei warf sie einen verstohlenen Blick auf die Uhr. In der Praxis eines Psychiaters gab es selten Wanduhren. Es war die achtundvierzigste Minute einer fünfzigminütigen Sitzung. Der Arzt wollte sie fortsetzen. Auf eigene Kosten.
    Was hat das zu bedeuten?, fragte Eve sich. Psychiater überzogen niemals die Zeit. Es wartete immer der nächste Patient, eine Jugendliche mit Essstörungen, eine frustrierte Hausfrau oder irgendein masturbierender Künstler, der mit dem Bus fuhr und nach Mädchen in Faltenröcken Ausschau hielt. Oder es wartete jemand mit zwanghaften Verhaltensstörungen, der jeden Morgen, bevor er zur Arbeit fuhr, sieben Runden durchs Haus drehen musste, um zu überprüfen, ob er das Gas abgedreht und auch nicht vergessen hatte, hundertmal die Fransen seines Teppichs zu kämmen.
    »Eve?«, wiederholte er. »Der Traum?«
    Es war kein Traum. Das wusste er so gut wie sie. Es war ein Albtraum, eine grässliche Horrorshow, die jede Nacht, jeden Mittag und jeden Morgen lief und im Mittelpunkt ihrer Gedanken und ihres Lebens stand.
    »Was wollen Sie darüber wissen?«, fragte Eve, um Zeit zu gewinnen. Sie spürte Übelkeit im Magen.
    »Ich will alles hören«, sagte er. »Erzählen Sie mir von dem Traum. Erzählen Sie mir von Mr Ludo.«
    Eve Galvez schaute auf das Outfit auf ihrem Bett. Die Hose, der Baumwollblazer, das T-Shirt und die Nikes machten zusammen ein Fünftel ihrer Garderobe aus. Sie reiste in diesen Tagen mit leichtem Gepäck, obwohl sie sich früher fast zwanghaft neue Klamotten gekauft hatte. Und Schuhe. Damals war ihr Briefkasten mit Modezeitschriften vollgestopft. In ihrem Wandschrank hatten so viele Kostüme, Blazer, Pullover, Blusen, Röcke, Mäntel, Hosen, Westen, Jacken und Kleider gehangen, dass kein Millimeter Platz mehr darin gewesen war. Jetzt hatte sie im Schrank reichlich Platz für ihre vielen Leichen. Und sie brauchte jede Menge Platz.
    Außer der spärlichen Garderobe besaß Eve ein Schmuckstück, an dem sie sehr hing, ein Armband, das sie nur nachts trug. Es gehörte zu den wenigen Dingen, die sie in Ehren hielt.
    Das hier war ihre fünfte Wohnung in zwei Jahren, ein billiges, zugiges Dreizimmerapartment im Nordosten Philadelphias. Es gab einen Tisch, einen Stuhl, ein Bett und einen Schrank. An den Wänden hingen keine Bilder und keine Poster. Obwohl Eve einen Job, eine Aufgabe und zahlreiche Verantwortlichkeiten anderen Menschen gegenüber hatte, kam sie sich manchmal wie eine Nomadin vor, eine Frau, die sich von den Fesseln des Stadtlebens befreit hatte.
    Beweisstück Nummer eins: vier Packungen Macaroni & Cheese von Kraft, deren Verfallsdatum schon vor zwei Jahren abgelaufen war. Immer wenn sie den Vorratsschrank öffnete, wurde sie daran erinnert, dass sie mit Lebensmitteln umzog, die sie nie mehr essen würde.
    Unter der Dusche dachte sie über die Sitzung bei ihrem Psychiater nach. Sie hatte ihm von dem Traum erzählt. Nicht alles – alles würde sie nie jemandem erzählen –, aber sicherlich mehr, als sie beabsichtigt hatte. Sie fragte sich, warum das so war. Der Mann war keineswegs einsichtiger als die anderen und hatte keine besondere Antenne, die bewies, dass er mehr draufhatte als seine Kollegen.
    Und doch hatte sie mehr erzählt als jemals zuvor.
    Vielleicht machte sie wirklich Fortschritte.
    Sie geht durch eine dunkle Straße. Es ist drei Uhr morgens. Eve weiß genau, wie spät es ist, denn sie hat auf dem Boulevard den Blick gehoben – eine Traumstraße ohne Namen und ohne Nummer – und die Uhr oben am Rathausturm gesehen.
    Ein Stück weiter wird die Straße noch dunkler, die Konturen sind noch verschwommener und die Schatten länger, wie auf einem riesigen Stillleben von Chirico. Auf beiden Straßenseiten sind leere Ladenlokale, geschlossene Coffeeshops, an deren Theken noch immer Kunden stehen, von Eis überzogen, in erstarrten Posen, während sie ihre Kaffeetassen an die Lippen führen.
    Sie gelangt an eine Kreuzung. Auf allen vier Seiten blinkt die Straßenbeleuchtung rot. Sie sieht eine Puppe, die auf einem kleinen Bauernstuhl sitzt. Die Puppe

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