Byrne & Balzano 4: Septagon
Spiegel. Oder irrte sie sich? Es war ein wässriges, gewelltes Bild, als würde man durch einen Eisblock schauen. Plötzlich erkannte Lilly, dass sie von Spiegeln umschlossen war, die ihr Spiegelbild bis ins Unendliche vervielfältigten. Doch es gab keinen Zweifel, dass sie nicht nur ihr eigenes Spiegelbild sah.
Am Ende des Gangs stand eine Frau.
94.
5.43 Uhr
Es war ein riesiges Haus. Jessica war durch den kleinen Eingangsbereich hinter der Küche geschlichen. Jetzt durchquerte sie eine große Speisekammer, die vom Boden bis zur Decke mit Stoffen vollgestopft war. Sie versuchte, die Tür neben der Speisekammer, die vermutlich in einen Vorratskeller führte, zu öffnen. Sie war verschlossen. Jessica lief durch die Küche. Der Boden war schachbrettartig mit schwarzen und weißen Fliesen ausgelegt. Die Armaturen waren schon älter, doch sie glänzten und waren gepflegt.
Jessica verließ die Küche. Als sie wieder auf den Gang trat, verharrte sie. Sechs, sieben Meter von ihr entfernt stand jemand. In der Mitte des Flures sah sie eine Glasscheibe, die einem Zweiwegspiegel ähnelte. Im ersten Moment wollte Jessica zurücktreten und ihre Waffe ziehen – die klassische Taktik, die an der Polizeiakademie gelehrt wurde –, doch in letzter Sekunde hielt sie sich zurück.
Plötzlich drehte der Spiegel sich langsam auf einer Achse. Ehe er sich ganz gedreht hatte, erblickte Jessica auf der anderen Seite eine junge Frau in einem scharlachroten Kleid. Als Jessica sich ihr näherte, drehte sich der Spiegel sekundenlang nicht, und sie sah ihr eigene Reflexion, die von der Gestalt auf der anderen Seite des Spiegels überlagert wurde. Als Jessica dieses Bild betrachtete, das einer Fotomontage ähnelte – eine Frau mit langem dunklen Haar und dunklen Augen, die in einer Parallelwelt ihre Schwester hätte sein können –, bekam sie eine Gänsehaut.
Die Frau im Spiegel war Eve Galvez.
95.
5.45 Uhr
Um ihn herum begann Faerwood zu atmen. Swann hörte die Geräusche rennender Kinder, das dumpfe Pochen harter Sohlen auf dem Eichenboden, das Kratzen einer alten Schellackplatte auf einem Victrola-Grammophon, die Geräusche seines Vaters, der im Keller hämmerte und sägte, das Geräusch der Wände, die er errichtete – Schutzwälle, die die unberechenbaren Monster des Irrsinns zurückhalten sollten.
Er erinnerte sich noch, wie er zum ersten Mal dabei gewesen war, als sein Vater vor Publikum auftrat. Er war fünf Jahre alt und wirkte bei den Zauberkunststücken noch nicht mit. Sie waren in einem kleinen Nest in Mississippi, in dem nur ein paar Tausend Seelen wohnten. Es war eine Vorstellung am Sonntagnachmittag auf einem Jahrmarkt, nicht weit von Starkville entfernt.
Während Great Cygne den ersten Zaubertrick vorführte, glitt Josephs Blick über die zuschauenden Kinder hinweg. Die Vorstellung schien sie zu hypnotisieren, und der große, beeindruckende Mann, der ganz in Schwarz gekleidet war, faszinierte sie. In diesem Augenblick begriff Joseph, dass sein Vater zu der Welt gehörte, die außerhalb seines eigenen rätselhaften Lebens lag. Und er wusste, was er tun musste, um das zu ändern.
Er schaute in den Garderobenspiegel. Great Cygne stand hinter ihm. Joseph Swann wagte es nicht, sich umzudrehen. Obwohl er das Jahrmarktszelt sah, die Geräusche hörte und die heiße, feuchte Luft roch, wusste er, dass er nicht gereist war. Er war auf Faerwood, in seiner Garderobe. Er schloss die Augen, verdrängte die Bilder. Als er die Augen wieder aufschlug, war Great Cygne verschwunden.
Als Joseph seinen Frack überzog, erinnerte er sich an den Tag, als er das Seil durchgeschnitten hatte, an dem sein Vater sich am Dachbalken erhängt hatte. Er erinnerte sich an den blutunterlaufenen Abdruck um Karl Swanns Hals und den Gestank des Erbrochenen und der Fäkalien. Er hatte ihn ins Schlafzimmer auf der Rückseite des Hauses getragen und nicht gewusst, was er tun sollte. Als sein Vater sich eine halbe Stunde später plötzlich regte, wurde ihm alles klar. Great Cygne war nun in seiner eigenen Zauberwelt gefangen.
Als die Dämmerung den Horizont über dem Delaware River erhellte und Philadelphia zum Leben erwachte, stieg Joseph Swann die Treppe hinauf. Es war kurz vor sechs Uhr, und das größte der sieben Wunder stand bevor.
96.
5.45 Uhr
Als der Spiegel sich vollständig gedreht hatte und zwei Wandlampen aufleuchteten, trat Jessica mit gesenkter Waffe vorsichtig ein paar Schritte vor. Jetzt stand sie der jungen Frau gegenüber, die sie im
Weitere Kostenlose Bücher