Byrne & Balzano 4: Septagon
seiner Einschätzung danebengelegen hatte.
»Stellt sich die Frage, welche Lügen die Frau uns sonst noch aufgetischt hat«, meinte Jessica.
»Stimmt.«
»Tja.« Jessicas Gedanken kreisten um die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden. »Ich würde gerne noch mal zu der Wohnung fahren und mich dort umsehen.«
Sie wusste, dass auch Byrne gerne noch einmal in Laura Somervilles Wohnung herumgestöbert hätte, doch heute mussten sie ihre Ermittlungen im Fall Caitlin O’Riordan fortsetzen. Das waren sie dem Mädchen schuldig.
Jessica quälte allein schon der Gedanke, die Ermordung Caitlins könnte als ein weiterer ungelöster Fall in die Mordstatistik Philadelphias eingehen.
Tatsache war, dass bei etwa fünfundzwanzig Prozent der Opfer von Schießereien ein Gerichtsverfahren anhängig war. Im Mikrokosmos von Nord-Philadelphia lag der Prozentsatz sicherlich höher. Aufgrund des landesweiten Interesses an der Mordrate der Stadt glaubten nicht wenige Leute, Philadelphia sei ein gefährliches Pflaster. Nüchtern betrachtet war es jedoch so, dass die Gruppe der Menschen, die andere erschossen, und die Gruppe derjenigen, die erschossen wurden, eine große soziale und ethnische Deckungsgleichheit aufwiesen. Wenn man nicht in dieser kleinen, gefährlichen Welt der Täter und Opfer lebte, schwebte man nicht in allzu großer Gefahr.
Die Sache hatte allerdings den Haken, dass diese Statistik im Grunde nur die Morde mittels Handfeuerwaffen erfasste. Wenn es um Opfer ging, die ertrunken oder ertränkt worden waren, gab es kaum Statistiken, vor allem, wenn die Leichen an Land gefunden wurden. Jessica hatte den neuesten FBI-Bericht über die Kriminalstatistik in Amerika gelesen. Das Ertrinken als Mordmethode existierte sozusagen nicht.
Die Kellnerin brachte Jessica den französischen Toast mit Scrapple. Es war eine riesige Portion. Jessica gab Ahornsirup auf den Teller, bestreute den Toast kunstvoll mit viel Zucker und biss hinein. Himmlisch. Dieses Gericht in diesem Lokal musste sie sich merken. So ein Essen mit siebentausend Kalorien, die nur aus Zucker und Cholesterin bestanden, verlieh neue Energie.
»Wie kannst du so was essen?«, fragte Byrne mit verkniffener Miene.
Jessica wischte sich über die Lippen, legte die Serviette auf den Tisch und trank einen Schluck Kaffee. »Was?«
»Dieses Scrapple -Zeug.«
»Hm, lecker. Das esse ich schon mein Leben lang.«
»Soll ich dir sagen, was da drin ist?«
Scrapple war der allerletzte Schritt bei der Zerlegung des Schweins: Stirn, Ellbogen, Kniescheiben, Schienbeine, dazu ein bisschen Cayenne-Pfeffer und Salbei für den Geschmack. Jessica wusste das, hatte aber keine Lust, es sich um halb acht morgens anzuhören. »Hör bloß auf.«
»Es reicht wohl, wenn ich sage, dass die Wurzel des Wortes ›Scrap‹ ist. Scrap wie ›Abfall‹, okay?«
»So genau wollte ich es nicht wissen, Detective.« Mit diesen Worten tunkte Jessica das letzte Stück Toast in den Rest Sirup, krönte das Ganze mit dem letzten Happen Scrapple, schob es sich mit dramatischer Geste in den Mund und zerkaute es genüsslich. Byrne schüttelte den Kopf und wandte sich seinem Weizentoast zu.
Ein paar Minuten später trank Jessica ihren Kaffee aus, nahm die Rechnung vom Tisch und fragte: »Wo fangen wir an?«
»Wir sollten uns noch mal in der Achten Straße umsehen.«
Jessica rutschte aus der Nische heraus. »Dann los.«
Den ganzen Vormittag hörten sie sich am Tatort in der Achten Straße um, ohne etwas Neues zu erfahren. Damit hatten sie auch kaum gerechnet. Den Nachmittag verbrachten sie damit, jeden Quadratzentimeter des Gebäudes, in dem Caitlin O’Riordans Leichnam gefunden worden war, unter die Lupe zu nehmen.
Um sieben Uhr abends überquerte Byrne die Straße und ging auf die Reihenhäuser auf der anderen Seite zu. Die ersten und zweiten Etagen waren noch bewohnt. Der Duft gebratenen Fleisches und gekochten Gemüses erinnerte Byrne daran, dass er und Jessica nichts zu Abend gegessen hatten.
Vom obersten Treppenabsatz aus blickte er auf das Eckhaus auf der gegenüberliegenden Seite. Das Licht von Jessicas Taschenlampe huschte in der zunehmenden Dunkelheit wie ein Laserstrahl durch den leeren Raum.
Byrnes Blick glitt über die Straße und die Häuser. Er stellte sich die Situation vor, als Caitlin hierhergebracht worden war. Ihr Killer hatte diesen schrecklichen Ort lange vor der Tat ausgewählt. Aus irgendeinem Grund war es ein besonderer Ort für ihn. Er bedeutete ihm etwas.
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