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Byrne & Balzano 4: Septagon

Titel: Byrne & Balzano 4: Septagon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Montanari
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Wahrscheinlich war er mitten in der Nacht hierhergekommen.
    Plötzlich heulte ein paar Straßen weiter eine Polizeisirene auf. Byrne zuckte zusammen. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass es so ruhig geworden war, dass er seinen eigenen Herzschlag gehört hatte.
    Zeit, den Feierabend einzuläuten.
    Als Byrne sich anschickte, das Fenster zu schließen, schossen die Bilder förmlich durch seinen Kopf. Kaum hatten seine Fingerspitzen die rissige, mit Kitt verschmierte Oberfläche des Schiebefensters berührt, wusste er, dass Caitlin O’Riordans Killer genau an dieser Stelle gestanden hatte. Er wusste es dank jener unerklärlichen Intuition, mit der er seit einem Zwischenfall vor vielen Jahren verflucht und gesegnet zugleich war: Kevin Byrne sah manchmal Dinge, die er nicht sehen wollte.
    Und nun sah er ...
    ... einen Mann unten an der Treppe stehen ... die ruhige Straße der Stadt vor ihm ... die schneeweiße Manschette eines Smokinghemdes ... das Rascheln von Seidenstoff in der Stille ... das Bild des toten Mädchens in der Glasvitrine ... das glitzernde Wasser, das von ihren Lippen tropft ... das Bild eines alten Mannes, der zusieht und applaudiert, wobei seine knöchernen, kraftlosen Hände lautlos aufeinanderschlagen ...
    ... und schmeckte den unreinen Geschmack der Gedanken des Mörders. Byrne schwirrte der Kopf. Er taumelte ein paar Schritte zurück und atmete aus. Die Luft schmeckte widerlich und bitter. Er spuckte auf den Boden.
    Es dauerte einen Moment, bis er sich gefasst hatte. Die Vision hatte ihn mit brutaler Klarheit überfallen. Es war schon eine Weile her, seitdem ihm so etwas passiert war. Jedes Mal, wenn es geschah, glaubte er, es wäre das letzte Mal.
    Vor Jahren hatte ein Mordverdächtiger am Westufer des Delaware River, im Schatten der Walt Whitman Bridge, auf ihn geschossen. Die Stirnwunde war nicht lebensbedrohend gewesen, doch Byrne war bewusstlos ins eiskalte Wasser gestürzt. Als die Kollegen ihn aus dem Fluss fischten, musste er wiederbelebt werden. Dem medizinischen Bericht zufolge war er fast eine Minute klinisch tot gewesen.
    In den folgenden Jahren stellte Byrne fest, dass er die Fähigkeit entwickelt hatte, einen Tatort zu »lesen«, indem er blitzlichtartig Bilder sah. Mitunter traten diese Visionen über Monate hinweg nicht auf, um dann mit unglaublicher Wucht und Klarheit zurückzukehren. Manchmal genügte ein kurzer Blick in ein Gesicht oder auf ein Foto, die Andeutung eines Geräusches oder eine flüchtige Berührung, um diese Bilder heraufzubeschwören.
    Seine Vorgesetzten und Kollegen wussten nichts von diesem Phänomen. Ihnen gegenüber redete Byrne immer nur von einem »Bauchgefühl« oder dem »Instinkt des Ermittlers«.
    Als er sich nun wieder halbwegs gefasst hatte, stieg Byrne die Treppe hinunter. In diesem Moment nahm er aus dem Augenwinkel eine Bewegung neben dem Eckhaus auf der anderen Straßenseite wahr. Byrne huschte zurück in den Schatten des Hausflurs und spähte durchs Fenster.
    Der Mann stand auf der Brachfläche neben dem Tatorthaus und hob den Blick zu ihm. Er trug dunkle Kleidung und hatte die Hände in die Taschen geschoben. Byrne konnte das Gesicht des Mannes nicht erkennen, aber er kannte dessen Haltung. Er hatte sie schon oft gesehen.
    Eine Weile schauten die beiden Männer sich an. Sie respektierten die jeweilige Rolle des anderen in diesem quälenden Spiel und vertrauten im Augenblick dem Schutz der Dämmerung.
    Byrne ließ sich absichtlich Zeit. Ein paar Minuten später stieg er die Treppe hinunter, verließ das Haus und überquerte die Straße.
    Robert O’Riordan, Caitlins Vater, war verschwunden.

13.
    S IE SASSEN IM W AGEN , den sie auf dem Parkplatz des Roundhouse geparkt hatten. Der Motor lief, die Fenster waren geschlossen, und die Klimaanlage arbeitete auf höchster Stufe wie im Kühlhaus von Burger King.
    Kevin Byrne schaute zu seiner Partnerin hinüber. Jessica hatte es sich auf dem Sitz bequem gemacht und die Augen geschlossen. Es war für sie beide ein langer Tag gewesen. Obwohl Byrne ebenfalls hundemüde war, hatte er das Gefühl, dass es für Jessica noch schlimmer war als für ihn. Byrne brauchte nur nach Hause zu fahren, sich hinauf in den ersten Stock zu schleppen, eine Flasche Yuengling zu öffnen, sich auf die Couch zu werfen und eine Pizza zu bestellen.
    Jessica jedoch musste in den Nordosten fahren, ihre Tochter Sophie abholen, für ihre Familie kochen, Sophie ins Bett bringen und dann duschen. Anschließend konnte sie vielleicht,

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