Byrne & Balzano 4: Septagon
wollte nicht wie eine Touristin aussehen – und schon gar nicht wie eine Ausreißerin vom Lande –, doch sie konnte nicht anders. Dieser Bahnhof war phänomenal.
Einmal warf sie einen Blick über die Schulter. Drei kleine Mennonitenkinder, die vielleicht gerade mit dem Zug aus Berks County gekommen waren, schauten ebenfalls zur Decke hinauf. Na, dann bin ich jedenfalls nicht die Einzige, dachte sie. Doch in ihrer engen Jeans, den Ugg-Stiefeln und mit dem dicken Augen-Make-up hätte der Unterschied zwischen ihr und einer Mennonitin kaum größer sein können.
Sie kannte nur einen einzigen Ort, den man mit diesem Bahnhof vergleichen konnte. Das war das King of Prussia, ein Einkaufszentrum, wo es jedes Geschäft gab, das man sich nur vorstellen konnte, und noch ein paar mehr. Burberry, Coach, Eddie Bauer, Louis Vuitton, Hermès. Als Zehnjährige war sie einmal in diesem Einkaufszentrum gewesen. Ihre Tante hatte ihr den Bummel zum Geburtstag geschenkt, doch am Ende war nur eine Gap-Jeans (damals stand sie auf Lucky Brand) herausgesprungen. Sie erinnerte sich auch an die furchtbaren Bauchschmerzen, nachdem sie bei Ho-Lee Chow oder Super Wok oder Shang-High oder wie immer das chinesische Fast FoodRestaurant hieß, irgendeinen Mist gegessen hatte. Es war trotzdem ganz okay gewesen. Ihre Familie war alles andere als reich. Und Gap war damals cool. Ehe sie das Einkaufszentrum verließen, hatte sie eine kleine Einkaufstasche von Versace gefunden, die jemand irgendwo abgelegt hatte. Damit war sie drei Wochen lang in der Schule herumgelaufen, als wäre die Einkaufstasche eine tolle Handtasche. Ein paar Mädchen fanden das blöd, aber nur die, die sie sowieso nicht leiden konnte.
Der Broschüre nach, die sie im Zug gefunden hatte, war der Bahnhof in der Dreißigsten Straße über 50 000 Quadratmeter groß und wurde im Nationalen Verzeichnis Historischer Stätten aufgeführt. Er lag an der Bahnlinie in der Market Street, zwischen der Neunundzwanzigsten und der Dreißigsten Straße, und war einer der meist frequentierten Passagierknotenpunkte in den Vereinigten Staaten – so stand es jedenfalls in der Broschüre. Er rangierte von seinem jährlichen Fahrgastaufkommen her gleich hinter der Penn Station in New York und der Union Station in Washington. In den vergangenen drei Jahren waren in diesem Bahnhof fast viereinhalb Millionen Menschen in ihre Züge gestiegen.
Meine Güte, dachte sie. Man könnte doch meinen, dass ein süßer Typ darunter war. Sie lachte, doch es kam nicht von Herzen. Sie hatte das Gefühl, als hätte sie eine Rolle glühenden Stacheldraht im Bauch, aber sie lachte dennoch. Es ging ihr gar nicht darum, hier einen netten Jungen zu treffen. Sie war aus einem anderen Grund hierhergekommen.
Sie saß an einem der Tische in der Gastronomiemeile unter dem gelben Licht eines großes Schirms mit der Werbeaufschrift von Au Bon Pain. Sie strich über ihre Hosentasche und stellte fest, dass sie fast pleite war. Als sie das Haus verlassen hatte, hatte sie einundsechzig Dollar und ein paar Cent besessen. Sie hatte geglaubt, sich damit wenigstens ein paar Tage über Wasser halten zu können.
Die Wirklichkeit holte sie ein.
Sie träumte von leckerem Essen. Von einer riesigen Pizza mit Zwiebeln, Pilzen und roten Peperoni. Von einem doppelten vegetarischen Burger mit Zwiebelringen. Ihre Geschmacksknospen erinnerten sich an ein Gericht, das ihre Tante einst gekocht hatte: Gnocchi mit Pesto und gebratenen roten Kartoffeln. Mein Gott , war sie hungrig. Aber es gab ja nicht umsonst die bekannte Gleichung: Ausreißen = Hunger. Diese Wahrheit musste sie wohl akzeptieren.
Außer ihrem knurrenden Magen gab es noch ein Problem, das sie lösen musste. Sie lebte jetzt auf der Straße und brauchte einen anderen Namen. Ihr Blick schweifte durch den Bahnhof und über die Geschäfte neben den Türen, die zur Dreißigsten Straße führten. Sie beobachtete die Menschen, die kamen und gingen. Sie alle hatten einen Namen.
Jeder auf der Welt hat einen Namen, dachte sie. Einen Namen, einen Spitznamen, einen Beinamen. Eine Identität . Wer war man, wenn man keinen Namen hatte?
Ein Nichts.
Noch schlimmer, eine Nummer. Eine Sozialversicherungsnummer. Eine Häftlingsnummer. Tiefer konnte man nicht sinken.
Hier kannte sie niemand. Das war einerseits gut, andererseits schlecht. Gut, weil sie hier vollkommen anonym war. Schlecht, weil es niemanden gab, auf den sie sich verlassen oder an den sie sich wenden konnte. Sie war auf sich allein
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