Byrne & Balzano 4: Septagon
gestellt, ein abgefallener Kiefernzapfen in einem einsamen Wald.
Sie schaute auf die wogende Menschenmenge. Es nahm kein Ende. Große, Kleine, Dicke, Dünne, Schwarze, Weiße, Unheimliche, Normale. Sie erinnerte sich an jedes Gesicht. Das war schon immer so gewesen. Als sie fünf Jahre alt war, hatten die Ärzte gesagt, sie habe ein eidetisches Gedächtnis – die Fähigkeit also, sich mit äußerster Präzision an Bilder, Geräusche oder Gegenstände zu erinnern. Seitdem hatte sie niemals ein Gesicht, einen Ort oder ein Foto vergessen.
Ihr fiel ein Typ auf, der am Ende der Bank saß, ein Matrose mit einer Leinenreisetasche, die fast aus den Nähten platzte und wie ein folgsamer Beagle neben ihm lag. Er schaute immer wieder zu ihr herüber, und wenn er wieder wegsah, war er vor Verlegenheit errötet. Der Typ war höchstens zwanzig und sah mit seinem kurzen Haar und in seiner Uniform eigentlich ganz süß aus. Aber sie war jünger – eine Verlockung, die ihn in den Knast bringen könnte. Sie lächelte ihn dennoch an, um es ihm noch schwerer zu machen – mit dem Erfolg, dass der Typ aufstand und zu den Tischen in der Gastronomiemeile ging. Sie konnte ein richtiges Biest sein.
Sie schaute auf die Türen, die zur Straße führten. Dort war ein Stand, an dem Geschenke und Blumen verkauft wurden. Ein älteres Pärchen, so um die dreißig, diskutierte über ein Blumengesteck für eine Beerdigung. Es sah aus, als wollte die Frau viel Geld dafür ausgeben, weil der Verstorbene ihr Vetter oder ein Vetter zweiten Grades war und weil sie extra aus Rochester hierhergekommen waren. Der Mann – ein fetter Typ, »eine Herzattacke auf zwei Beinen«, wie ihre Tante zu sagen pflegte – wollte die ganze Sache vergessen. Offenbar hatte er den Verstorbenen nicht besonders gemocht.
Sie beobachtete das streitende Paar eine Weile; dann glitt ihr Blick über das Warenangebot des Floristen hinweg. Folienluftballons, Keramikfiguren, hässliche Vasen, ein hübsches Blumensortiment. Als ihr Blick über die große Blumenauswahl schweifte, kam ihr die Idee. Einfach so. Sie hätte sich Rose oder Dahlia oder Iris nennen können. Vielleicht sogar Daisy.
Die Entscheidung fiel ihr letztendlich leicht. Sie war zwar von zu Hause ausgerissen, aber jetzt hatte sie einen Namen.
Sie beschloss, sich Lilly zu nennen.
27.
A LS K EVIN B YRNE sich in dem Kriechkeller auf den Boden hockte, kam es zu einem Wettstreit zwischen seinem schmerzenden Ischiasnerv und dem Schmerzmittel in seinem Blut. Das war immer so. Bei einer Größe von fast eins neunzig fühlte er sich hier wie in einem Grab, eingeschlossen von den feuchten, engen Wänden.
Jessica war oben und koordinierte den weiteren Ablauf.
Byrne betrachtete die drei bunten Kisten vor ihm. Rot. Gelb. Blau. Wie die Farben der Wimpel eines Gebrauchtwagenhändlers. Fröhliche Farben. Die Kisten waren alle mit einem kleinen bronzenen Griff und Scharnieren versehen. Jetzt waren sie geschlossen, doch Byrne hatte in jede einen Blick geworfen. Er wünschte, er hätte es nicht getan. Doch diesen Gedanken hatte er immer, seitdem er in seiner ersten Nacht als Streifenpolizist zum ersten Mal den Tatort eines brutalen, blutigen Gewaltverbrechens betreten hatte. In jener Nacht waren es drei Opfer einer Schießerei in Juniata gewesen. Hirn an den Wänden, Eingeweide auf dem Couchtisch und irgendetwas nicht Identifizierbares auf dem blutbespritzten Fernseher. Es wurde niemals besser. Manchmal ein bisschen leichter, aber niemals besser.
Die Holzkisten waren von einer Staubschicht bedeckt. Byrne hoffte, dass die beiden Polizistinnen, die hier unten gewesen waren – Jessica und eine Beamtin in Uniform namens Maria Caruso –, die Kisten nur mit Handschuhen berührt hatten. Byrne trug selbstverständlich Handschuhe.
Er betrachtete die Fugen, die Gehrungen und die Bauweise dieser kleinen Särge. Sie waren fachmännisch angefertigt worden. Hier hatte jemand großes handwerkliches Geschick bewiesen.
Gleich würde die Spurensicherung damit beginnen, Beweismaterial und Spuren am Fundort sicherzustellen; außerdem musste das Opfer in die Gerichtsmedizin gebracht werden. Die Kriminaltechniker standen vor dem Gebäude, tranken kalten Kaffee, plauderten und warteten auf das Zeichen von Detective Kevin Byrne.
Byrne war noch nicht so weit.
Er betrachtete die Anordnung der Kisten. Sie standen nicht in einer Reihe, waren aber auch nicht wahllos abgestellt worden. Jemand hatte sie mit Absicht in dieser Anordnung aufgestellt,
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