BZRK Reloaded (German Edition)
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Sie war glücklich. »Nachhaltig glücklich«, auch wenn Minako Zweifel hatte, dass sie die Worte überhaupt verstand.
Minako war nicht glücklich. Sie hatte sich gefragt, ob sie bis ganz nach oben steigen und sich von der Reling hinunterstürzen sollte. Bis zur Wasseroberfläche wären es ungefähr dreißig Meter, mehr als genug, um sie zu töten.
Wie lange würde sie fallen? Zwei Sekunden? Drei?
Wenn sie sich nur sicher sein könnte, dass es nicht vier waren …
Manchmal war die Einsamkeit erstickend. Sie nahm ihr die Luft zum Atmen. Ihre Mutter. Ihre Freunde. Ihr Zimmer. Ihre Sachen. Alles war dahin. Alles, was ihr jemals normal erschienen war, war diesem schwimmenden Irrenhaus gewichen, diesen Verrückten mit ihren leuchtenden Augen.
Fatima hatte gemerkt, dass sie weinte, war hochgekommen und stand auf dem Steg vor ihrem Quartier, um mit ihr zu reden. »Nicht sein Trauer, Minako. Sein glücklich. Sein Freude!« Das letzte Wort sprach sie »Fräute« aus.
»Ich empfinde keine Freude«, hatte Minako gesagt. »Warum auch? Ich wurde entführt. Meine Mutter weint jede Nacht, da bin ich mir sicher. Ich habe sie vor Augen, ich sehe, wie sie um ihre Tochter weint. Ich kann ihre roten Augen sehen.«
»Nein, nein, Minako. Die Welt ganze wird sein glücklich. Dein Mama sie ist glücklich dich. Glücklich du.«
»Vermisst du deine Eltern denn nicht?«, hatte Minako gefragt.
Und Fatimas dunkle Augen hatten sie leer und öde angesehen. »Nein?«, hatte sie gesagt, als wäre es eine Frage. Dann hatte sie etwas zuversichtlicher hinzugefügt: »Nein. Sie sind gekommen, die Große Seelen.«
»Wer sind denn diese Großen Seelen?«, hatte Minako gefragt.
»Du hast nicht gesehen Fotos?«
Minako schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Ja. Toblerone, das ist, warum. Er krank«
»Was ist an diesen Leuten so besonders?«, fragte Minako.
Fatima lächelte geheimnisvoll. »Sehr schöne. Sehr schönste Männer.« Dann sagte sie: »Ich habe Foto in Haus.«
Und wenn nur der Zeitpunkt etwas günstiger gewesen wäre, hätte Minako vielleicht sehen können, was Fatima ihr zeigen wollte. Doch ehe sie dazu Gelegenheit hatte, kam die Durchsage.
»Alle auf der Gemeinschaftsetage versammeln, tragt eure saubersten Kleider und macht euer glücklichstes Gesicht!«
Fatima war kreischend davongerannt und hatte das Angebot, das sie Minako gemacht hatte, völlig vergessen.
Minako hatte nur einen Satz Kleidung zum Wechseln – das Puppenschiff war nicht für modischen Stil bekannt. Frauen trugen schwarze Trainingshosen und blaue Hemden, Männer Kakihosen und weiße Hemden. Junge Mädchen hatten eine Art Schuluniform: Faltenrock mit weißer Bluse. Männliche Jugendliche gab es nicht, ein Umstand, der Minako erst jetzt auffiel.
Die Kleider passten ihr allesamt nicht sonderlich gut, aber die Sachen kamen sehr sauber und akkurat gebügelt aus der Reinigung. Selbst die Kniestrümpfe wurden gebügelt. Das wusste Minako, weil sie selbst in der Wäscherei arbeitete.
Es war eine eigenartige Wäscherei. Sie befand sich unterdecks zwischen Benjaminia und Charlestown, und es arbeiteten dort Leute aus beiden Dörfern, alle glücklich, glücklich darüber, dass sie Wäsche waschen, sortieren und in die großen Industriewaschmaschinen füllen durften, dass sie Hosen in den großen Dampfbügelpressen glätten durften, das machte sie so überaus glücklich.
Außer einmal, als ein junger Mann namens Xander in einen der großen Trockner geklettert war. Das musste er nachts getan haben, als es in der Wäscherei ruhig war. Er hatte das Programm eingestellt, gestartet und die Tür mithilfe eines Klebebandbündels von innen zugezogen, worauf das Programm loslegte.
Minako hatte ihn nicht gefunden, aber sie war in der Nähe gewesen, als der erste Schrei den grausigen Fund verkündet hatte. Ordner waren herbeigeeilt und hatten den blutigen, verbrannten Leichnam aus dem Trockner gezerrt. Minako hatte gesehen, wie er ihnen entglitten und auf den Boden gefallen war.
Selbstmord im Trockner. So. Demnach waren also nicht alle glücklich, glücklich, und nichts als glücklich.
Seit sie in die Pubertät gekommen war und sich ihre Zwangsstörung verschlimmert hatte, hegte Minako die Befürchtung, dass sie verrückt war. Aber es war einfach nicht möglich, dass diese Leute wirklich glücklich sein konnten, wo sie doch ihrer Familien beraubt und aus ihrer Heimat verschleppt worden waren, wo sie in einer widerlichen
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