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Cabal - Clive Barker.doc

Cabal - Clive Barker.doc

Titel: Cabal - Clive Barker.doc Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Admin
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alleine.«

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    X
    Sonne und Schatten
    Der Himmel über Midian war wolkenlos, die Luft überschäumend. Die Verdrießlichkeit, die sie bei ihrem ersten Besuch hier empfunden hatte, war verschwunden. Dies war immer noch die Stadt, in der Boone gestorben war, aber Lori konnte sie deswegen nicht mehr hassen. Eher umgekehrt: Sie und die Stadt waren Verbündete, die beide vom Dahinscheiden des Mannes gezeichnet waren.
    Aber sie war nicht gekommen, um die Stadt selbst zu besuchen, sie wollte zum Friedhof, und der enttäuschte sie nicht. Die Sonne leuchtete auf den Mausoleen, die schroffen Schatten schmeichelten ihren kostbaren Verzie -
    rungen. Selbst das Gras, das zwischen den Gräbern wuchs, war heute von leuchtenderem Grün. Kein Wind wehte aus irgendeiner Himmelsrichtung; kein Atem der Traumstürme, die die Toten brachten. Es herrschte ungewöhnliche Stille innerhalb der hohen Mauern, als würde die Außenwelt gar nicht mehr existieren. Hier war ein den Toten geweihter Ort, und sie waren nicht die verstorbenen Lebenden, sondern fast eine andere Rasse, die Rituale und Gebete verlangte, welche ausschließlich ihr gehörten.
    Sie war auf allen Seiten von derlei Zeichen umgeben: Grabsteininschriften in Englisch, Französisch, Polnisch und russisch; Bilder von verschleierten Frauen und zerschellte Urnen, Heilige, deren Martyrium sie nur ahnen konnte, Hunde aus Stein, die auf den Grüften ihrer Herren schliefen – alles Symbolik, die dieses andere Volk begleitete. Und je mehr sie erforschte, desto mehr dachte 88

    sie über die Frage nach, die sie am Vortag schon beschäftigt hatte: Warum war der Friedhof so groß? Und warum waren so viele Nationalitäten hier begraben, was immer deutlicher wurde, je mehr Gräber sie studierte. Sie dachte an ihren Traum; an den Wind, der aus allen vier Himmelsrichtungen geweht hatte. Es war, als hätte er etwas Prophetisches gehabt. Der Gedanke beunruhigte sie nicht.
    Wenn so die Welt funktionierte – mit Omen und Prophezeiungen –, so war das immerhin ein System, und sie hatte zu lange ohne eins gelebt. Die Liebe hatte sie enttäuscht; dies würde es vielleicht nicht tun.
    Sie brauchte eine Stunde, während der sie durch die stillen Wege schritt, bis sie die rückwärtige Friedhofsmauer erreicht hatte, und dort fand sie eine Reihe Tiergräber –
    Katzen ruhten neben Vögeln, Hunde neben Katzen; friedlich nebeneinander wie verwandte Arten. Es war ein seltsamer Anblick. Sie wußte zwar von anderen Tierfried-höfen, aber sie hatte noch nie gehört, daß Haustiere im selben geweihten Boden wie ihre Herren begraben worden waren. Doch sollte sie sich hier von irgend etwas überraschen lassen? Der Ort hatte seine eigenen Gesetze, und er war fern von denen erbaut worden, die sich darum kümmern oder verdammen konnten.
    Als sie sich von der Mauer abwandte, konnte sie das Eingangstor nicht sehen, und sie erinnerte sich auch nicht mehr, welcher Weg dorthin führte. Das war einerlei. Sie fühlte sich sicher in der Einsamkeit des Ortes, und es gab vieles hier, was sie noch sehen wollte: Grabmäler, deren Architektur die umliegenden überragte und zur Bewun-derung herausforderten. Sie entschied sich für einen Weg, der zu dem halben Dutzend der Vielversprechendsten führen würde, und begann bummelnd den Rückweg. Die Sonne, die sich dem Zenit näherte, wurde mit jedem Augenblick wärmer. Obwohl sie langsam dahinschlen-89

    derte, brach ihr der Schweiß aus, und ihr Hals wurde immer trockener. Sie hatte einen weiten Weg vor sich, wenn sie ihren Durst stillen wollte. Doch durstig oder nicht, sie ging nicht schneller. Sie wußte, sie würde nie mehr hierher kommen. Sie wollte, daß die Erinnerungen sicher verwahrt waren, wenn sie ging.
    Unterwegs sah sie mehrere Grabmale, die buchstäblich von vor ihnen gepflanzten Schößlingen überwuchert worden waren. Die Bäume, meist Immergrün, Erinnerung an das ewige Leben, gediehen in der Abgeschiedenheit der Mauern und nährten sich vom fruchtbaren Boden. In manchen Fällen hatten ihre wuchernden Wurzeln die Denkmale gespalten, denen Schatten und Schutz zu spen-den sie erbaut worden waren. Diese Szenen von frischem Grün und Verfall fand sie besonders vielsagend. Sie verweilte gerade vor einer, als die Stille unterbrochen wurde.
    Im Blattwerk verborgen keuchte jemand, oder etwas.
    Sie trat automatisch einen Schritt zurück, aus dem Schatten des Baums in die heiße Sonne. Der Schrecken ließ ihr Herz heftig schlagen, sein Pochen machte sie taub für das

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