Cabal - Clive Barker.doc
als tadelte sie das sterbende Ding, und ihr Eifer, es zu greifen, war plötzlich drängend. Aber sie waren in einer Sackgasse. Lori war ebensowenig bereit, sich dem Eingang der Gruft zu nähern, wie die Frau bereit war, noch einen Schritt in Richtung der Tür ins Freie zu gehen, und in diesen Sekunden der Unentschlossenheit erwachte das Tier zu neuem Leben. Eine seiner Klauen ergriff Loris Brust, als es anfing, sich in ihrer Umarmung zu winden.
Das Tadeln wurde zum Aufschrei...
»Babette!«
... aber wenn das Geschöpf ihn hörte, achtete es nicht darauf. Seine Bewegungen wurden heftiger: eine Mischung aus Anfall und Sinnlichkeit. In einem Augenblick schüttelte es sich wie unter Qualen, im nächsten räkelte es sich wie eine Schlange, die ihre Haut abstreift.
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»Nicht hinsehen, nicht hinsehen!« hörte sie die Frau sagen, aber Lori wollte keinen Blick von diesem gräßlichen Tanz nehmen. Und sie konnte das Wesen auch nicht der Obhut der Frau übergeben; solange es sie noch so festhielt, würde jeder Versuch, sie zu trennen, Blut fließen lassen.
Aber dieses Nicht hinsehen! hatte seinen Sinn gehabt.
Jetzt war es an Lori, die Stimme voller Panik anschwellen zu lassen, als ihr klar wurde, daß das, was sich in ihren Armen abspielte, wider jegliche Vernunft war.
»Allmächtiger Gott!«
Das Tier verwandelte sich vor ihren Augen. Es verlor im Überfluß von Häutung und Zuckungen seinen Tiercha-rakter, aber nicht, indem es seine Anatomie neu ordnete, sondern indem es sein gesamtes Wesen verflüssigte – bis auf die Knochen – , bis das einstmals Feste nur noch brodelnde Materie war. Dies war die Ursache des bittersü-
ßen Geruchs, den sie unter dem Baum wahrgenommen hatte: der Stoff, der die Auflösung des Tiers bewirkte. In dem Augenblick als sie den Zusammenhalt verlor, schien die Materie aus ihrem Griff zu gleiten, aber irgendwie zog die Essenz des Dings – seine Willenskraft, möglicherweise seine Seele – sie zum Zweck der Neuordnung zurück. Der letzte Teil des Tiers, der schmolz, war die Kralle, und ihre Auflösung jagte ein Pulsieren der Lust durch Loris Körper. Aber das lenkte sie nicht von der Tatsache ab, daß sie jetzt frei war. Sie war entsetzt, konnte das, was sie hielt, nicht schnell genug loswerden, und kippte es wie einen Haufen Exkremente in die ausgestreckten Arme der Trauernden.
»Herrgott!«, sagte sie zurückweichend. »Herrgott. Herrgott.«
Das Gesicht der Frau dagegen drückte kein Entsetzen aus; nur Freude. Tränen des Glücks rannen über ihre weißen Wangen und fielen in den Schmelztiegel, den sie 96
hielt. Lori sah zum Sonnenlicht. Es war nach dem Dunkel des Inneren blendend grell. Sie war vorübergehend desorientiert und machte die Augen zu, um sich von Gruft und Licht gleichermaßen abzulenken.
Schluchzen veranlaßte sie, die Augen wieder aufzuma-chen. Diesmal war es nicht die Frau, sondern ein Kind, ein Mädchen von vier oder fünf Jahren, das nackt dort lag, wo der Schleim der Verwandlung gewesen war.
»Babette«, sagte die Frau.
Unmöglich, antwortete die Vernunft. Dieses magere weiße Kind konnte nicht das Tier sein, das sie unter dem Baum gerettet hatte. Es war ein Taschenspielertrick, oder eine idiotische Täuschung, die sie über sich selbst gebracht hatte. Unmöglich; vollkommen unmöglich.
»Sie spielt so gerne draußen«, sagte die Frau, die von dem Kind zu Lori sah. »Und ich sage ihr: Niemals, niemals in die Sonne. Spiel niemals in der Sonne. Aber sie ist ein Kind. Sie versteht es nicht.«
Unmöglich, wiederholte die Vernunft. Aber irgendwo in ihrem Innersten hatte Lori bereits aufgegeben, es zu leugnen. Das Tier war echt gewesen. Die Verwandlung war echt gewesen. Jetzt war da ein lebendes Kind, das in den Armen seiner Mutter weinte. Auch sie war echt. Jeder Augenblick den sie verneinte, was sie wußte, war ein für das Verstehen verlorener Augenblick. Daß in ihrem Weltbild kein Platz für so ein Geheimnis war, ohne daß es zerschellte, war seine eigene Schuld und ein Problem, für einen anderen Tag. Jetzt wollte sie nur fort; ins Sonnenlicht, das diese Gestaltveränderer fürchteten. Sie wagte nicht, den Blick von ihnen abzuwenden, bis sie in der Sonne war, daher streckte sie die Hand zur Wand aus, um sich behutsam daran rückwärts zu tasten. Aber Babettes Mutter wollte sie noch nicht gehen lassen.
»Ich schulde Ihnen etwas...« sagte sie.
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»Nein«, antwortete Lori. »Ich will... nichts... von Ihnen.« Sie verspürte den Drang, ihrem Ekel
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