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Cabal - Clive Barker.doc

Cabal - Clive Barker.doc

Titel: Cabal - Clive Barker.doc Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Admin
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Trauerkleidung unter der Tür. Wo war der Zusammenhang?
    »Wer sind Sie?« rief sie.
    Als sie angesprochen wurde, schien die Trauernde in den Schatten zurückzuweichen, dann bedauerte sie die Bewegung und kam wieder näher zu der offenen Tür, aber so zögerlich, daß die Verbindung zwischen Tier und Frau deutlich wurde.
    Sie hat auch Angst vor der Sonne, dachte Lori. Sie ge-hörten zusammen, Trauernde und Tier, die Frau klagte wegen des Geschöpfes, das Lori in den Armen hielt.
    Sie betrachtete den Weg, der zwischen ihr und dem Grabmal lag. Konnte sie zur Tür der Gruft gelangen, ohne in die Sonne zu treten und damit das Ende des Tieres zu beschleunigen? Vielleicht mit Vorsicht. Sie plante ihren Weg, bevor sie sich bewegte, dann ging sie zu dem Mausoleum hinüber und benützte die Schatten als Anlauf-punkte. Sie sah nicht zur Tür – ihre gesamte Aufmerksamkeit war darauf konzentriert, das Tier vor dem Licht zu schützen –, aber sie konnte die Anwesenheit der Trauernden spüren, die sie herbeiwünschte. Einmal gab die Frau einen Ton von sich; kein Wort, sondern einen sanften Laut, einen Laut wie an der Krippe, der nicht Lori galt, sondern dem sterbenden Tier.
    Als die Tür des Mausoleums nur noch drei oder vier Meter entfernt war, wagte Lori aufzusehen. Die Frau unter der Tür konnte nicht mehr länger warten. Sie gr iff aus ihrer Zuflucht heraus; die Arme wurden entblößt, als der Stoff des Gewands zurückrutsche, das sie trug, und ihre Haut wurde dem Sonnenlicht preisgegeben. Die Haut war weiß – wie Eis, wie Papier –, aber nur einen Augenblick lang. Als sich die Finger streckten, um Lori ihre Bürde abzunehmen, wurde sie dunkel und geschwol-93

    len, als wären urplötzlich Blutergüsse entstanden. Die Trauernde stieß eine Schmerzensschrei aus und wäre beinahe in die Gruft zurückgestürzt, als sie die Arme zurückzog, aber vorher platzte die Haut auf, und Staub –
    gelb wie Pollen – quoll aus ihren Fingern und fiel durch das Sonnenlicht auf die Veranda.
    Lori war Sekunden später an der Tür; dann durch sie hindurch im Schutz der Dunkelheit dahinter. Das Zimmer war nicht mehr als eine Vorkammer. Zwei Türen führten weiter hinein: eine in eine Art Kapelle, die andere nach unten. Die trauernde Frau stand vor dieser zweiten, offenen, so weit vom schädlichen Sonnenlicht entfernt, wie sie nur konnte. In ihrer Hast hatte sie den Schleier fallen lassen. Das Gesicht darunter war fein geschnitten und fast bis zur Ausgezehrtheit schmal, was den Augen, in denen sich sogar in der dunkelsten Ecke des Raumes etwas Licht von der offenen Tür spiegelte, so daß sie beinahe zu leuchten schienen, zusätzliche Macht verlieh.
    Lori verspürte keinerlei Angst. Die andere Frau zitterte, während sie die sonnenverbrannten Hände rieb und ihr Blick von Loris bestürztem Gesicht zu dem Tier glitt.
    »Ich glaube, es ist tot«, sagte Lori, die nicht wußte, an welcher Krankheit die Frau litt, die ihren Kummer aber aus frischester Erinnerung kannte.
    »Nein«, sagte die Frau voll stiller Überzeugung. »Sie kann nicht sterben.«
    Ihre Worte waren eine Feststellung, keine Bitte, aber die reglose Gestalt in Loris Armen strafte diese Überzeugung Lügen. Wenn das Wesen noch nicht tot war, kam sicherlich jede Rettung zu spät.
    »Würden Sie sie mir bringen?« fragte die Frau.
    Lori zögerte. Das Gewicht des Körpers tat ihren Armen weh, und sie wollte die Pflicht hinter sich bringen, dennoch durchquerte sie die Kammer nicht.

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    »Bitte«, sagte die Frau und streckte die Hände aus.
    Lori gab nach und ließ die Sicherheit von Tür und son-nenerleuchteter Veranda hinter sich. Sie war erst zwei oder drei Schritte gegangen, als sie flüsternde Laute hörte. Sie konnten nur einen Ursprung haben: die Treppe. Es waren Leute in der Gruft. Sie blieb stehen, kindischer Aberglaube stieg in ihr empor. Angst vor Gräbern; Angst vor abwärts führenden Treppen; Angst vor der Unterwelt.
    »Da ist niemand«, sagte die Frau mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Bitte, bringen Sie mir Babette.«
    Als wollte sie Lori weiter beruhigen, ging sie einen Schritt von der Treppe weg und flüsterte dem Tier, das sie Babette genannt hatte, etwas zu. Entweder die Worte, oder die Nähe der Frau, oder möglicherweise die kühle Dunkelheit der Kammer entlockten dem Wesen eine Reaktion: ein Zittern, das wie eine elektrische Ladung an seiner Wirbelsäule entlanglief und so stark war, daß Lori es beinahe fallengelassen hätte. Das Murmeln der Frau wurde lauter,

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