Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Cabal - Clive Barker.doc

Cabal - Clive Barker.doc

Titel: Cabal - Clive Barker.doc Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Admin
Vom Netzwerk:
Geräusch, das es ausgelöst hatte. Sie mußte ein paar Augenblicke warten und genau hinhören, um sicher zu sein, daß sie sich das Geräusch nicht eingebildet hatte. Es war kein Irrtum. Etwas versteckte sich hinter den Ästen des Baums, die von ihrer Blätterlast so niedergedrückt wurden, daß sie beinahe den Boden berührten. Jetzt, als sie genauer hinhörte, wurde ihr klar, daß das Geräusch nicht menschlichen Ursprungs war; und es war auch nicht gesund. Sein abgehacktes Keuchen erinnerte an ein sterbendes Tier.
    Sie stand eine Minute oder länger in der Hitze der Sonne, sah einfach in die Masse aus Laub und Schatten und versuchte, das Geschöpf zu sehen. Gelegentlich eine Bewegung: ein Körper, der vergeblich versuchte, sich 90

    aufzurichten, verzweifeltes Scharren am Boden, wenn das Wesen aufstehen wollte. Seine Hilflosigkeit rührte sie.
    Wenn sie nicht für es tat, was sie konnte, würde das Tier sicher mit dem Wissen sterben – das war der Gedanke, der sie zum Handeln veranlaßte –, daß jemand sein Leid gehört hatte und vorbeigegangen war.
    Sie trat wieder in den Schatten. Das Keuchen hörte vorübergehend völlig auf. Vielleicht hatte das Wesen Angst vor ihr und bereitete sich auf eine letzte Handlung der Selbstverteidigung vor, da es ihre Annäherung als Aggression wertete. Sie machte sich bereit, vor Krallen und Zähnen zurückzuweichen, als sie die letzten Äste beiseite schob und durch das Wirrwarr der Zweige sah.
    Ihr erster Eindruck war nicht Sehen oder Hören, sondern Riechen: ein bittersüßer Geruch, der nicht unangenehm war, und sein Ursprung war das Geschöpf mit den fahlen Flanken, das sie jetzt im Halbdunkel erkennen konnte, aus dem es sie mit großen Augen ansah. Sie schätzte, daß es ein junges Tier war, aber nicht von einer Art, die sie kannte. Möglicherweise eine Art Wildkatze, aber sein Fell erinnerte mehr an ein Reh als an das einer Katze. Es beobachtete sie argwöhnisch, der Hals konnte den feinge-schnittenen Kopf kaum stützen. Noch während sie es ansah, schien es mit dem Leben abzuschließen. Es machte die Augen zu, der Kopf sank zu Boden.
    Die Zweige waren so dicht, daß sie nicht näher hingehen konnte. Sie versuchte gar nicht erst, sie beiseite zu biegen, sondern brach sie ab, um zu dem sterbenden Geschöpf zu gelangen. Die Zweige bestanden aus leben-dem Holz und wehrten sich. Auf halbem Weg durch das Dickicht schnappte ein besonders trotziger Ast ihr mit so stechender Heftigkeit ins Gesicht, daß sie einen Schmerzensschrei ausstieß. Sie griff mit der Hand zur Wange. Die Haut rechts vom Mund war aufgeplatzt. Sie wischte das 91

    Blut weg und griff den Zweig mit neuem Eifer an, bis sie schließlich in Reic hweite des Tieres war. Es konnte fast nicht mehr auf ihre Berührung reagieren, seine Augen öffneten sich kurz flatternd, als sie seine Flanke streichelte, dann machte es sie wieder zu. Sie konnte keine Verletzung sehen, aber der Körper unter ihrer Hand war fiebrig und zitterte.
    Als sie sich bemühte, das Tier hochzuheben, fing es an zu urinieren und machte ihre Hände und ihre Bluse naß, aber sie hob es trotzdem auf, totes Gewicht in ihren Armen. Abgesehen von den Zuckungen, die durch sein Nervensystem liefen, hatte es keine Kraft mehr in den Muskeln. Seine Glieder hingen kraftlos herab, ebenso der Kopf. Nur der Geruch, den sie als erstes bemerkt hatte, war noch voller Leben, er wurde stärker, als die letzten Augenblicke des Wesens näherrückten.
    Etwas wie ein Schluchzen drang an ihre Ohren. Sie erstarrte.
    Wieder dasselbe Geräusch. Irgendwo links von ihr, und kaum unterdrückt. Sie trat aus dem Schatten des Immergrüns und nahm das sterbende Tier mit sich. Als das Sonnenlicht auf das Geschöpf fiel, reagierte es mit einer Heftigkeit, die sich mit seiner offensichtlichen Entkräf-tung kaum vereinbaren ließ, und seine Glieder zuckten ruckartig. Sie trat in den Schatten zurück, weil ihre Instinkte, nicht Analyse, verrieten, daß das Licht dafür verantwortlich war. Erst dann sah sie wieder in die Richtung, aus der das Schluchzen gekommen war. Die Tür eines Mausoleums weiter unten am Weg – einem gewaltigen Bauwerk aus gesprungenem Marmor – war angelehnt, und in dem dunklen Spalt dahinter konnte sie vage eine menschlic he Gestalt erkennen. Vage, weil sie in Schwarz gekleidet war und verschleiert zu sein schien.
    Sie verstand dieses Szenario nicht. Das sterbende, vom 92

    Licht gequälte Tier; die schluchzende Frau – sicherlich eine Frau – in

Weitere Kostenlose Bücher